PROFESSOR DR. FRANZ
MUNCKER
LIEBIGSTRASSE 39, 2. EINGANG
MÜNCHEN, 25. März
1911.
Sehr geehrter Herr Wedekind!
Als ich gestern Abend die ersten zwei Seiten
Ihres Dramas „Tod und Teufel“ gelesen hatte, war ich mir klar, daß ich das
Stück schon kannte; nur wegen des nicht scharf bezeichnenden Titels hatte ich
mich nicht sogleich daran erinnert, als Sie mir das Stück brachtenWedekind hat Prof. Dr. phil. Franz Muncker (Liebigstraße 39) [vgl. Adreßbuch für München 1911, Teil I, S. 413], Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften und seit 1896 Professor für Literaturgeschichte an der Universität München, am 24.3.1911 aufgesucht, wie er an diesem Tag notierte: „Besuch bei Professor Munker.“ [Tb] Er hat ihm nicht nur sein Stück „Die Zensur“, sondern auch sein Stück „Tod und Teufel (Totentanz)“ sowie handschriftliche Erörterungen dazu mitgebracht, wie aus dem vorliegenden Brief hervorgeht.. Ich las das
Stück aber dennoch gestern noch einmal langsam zu Ende und las dann auch die
mir vorher noch unbekannte „Zensur“.
Nun erinnere ich mich auch genau, daß ich selbst
unter denen war, die etwa vor einem JahrDie Polizeidirektion München hat Franz Muncker am 20.4.1910 angeschrieben (außerdem: Wilhelm Weigand, Richard Du Moulin-Eckart, Georg Kerschensteiner, Friedrich Müller und Fritz Basil) und um ein Gutachten gebeten, ob die öffentliche Aufführung von „Totentanz“ angezeigt sei [vgl. KSA 6, S. 683f.]. Gestützt auf die Gutachten des Münchner Zensurbeirates, dem Franz Muncker und die anderen angeschriebenen Personen angehörten, wurde der bereits im Vorjahr nicht zur Aufführung freigegebene Einakter am 24.5.1910 von der Zensurbehörde „erneut nicht zur Aufführung am Münchner Schauspielhaus freigegeben und dieses Verbot am 14.1.1911 erneuert.“ [KSA 6, S. 668] „Tod und Teufel“ von der Polizeidirektion
zur Begutachtung erhielten. Was ich damals geschriebenFranz Muncker hat der Polizeidirektion München auf ihre Anfrage (siehe oben) zu „Totentanz“ am 5.5.1910 geantwortet: „Mir scheint gerade der künstlerische Wert des Stückes von Wedekind sehr gering zu sein. Was Wedekind sagen will, ist ernst, ja bedeutsam; man kann seine Ansicht wissenschaftlich diskutieren, auch wenn man sie für verfehlt hält. Aber künstlerisch und besonders dramatisch hat er diese Gedanken nur sehr ungenügend herausgebracht. Mir scheint manches in dem Stück langweilig, vieles aber so unklar ausgedrückt, daß man geraume Zeit braucht, bis man versteht, was er wirklich meint. In mehreren Einzelheiten bin ich nach wiederholter Lektüre noch nicht sicher, ob ich Wedekinds Worte genau in seinem Sinne deute. So glaube ich auch nicht, daß das Theaterpublikum den rechten Sinn sogleich erfassen wird, und in so fern bin ich [...] einverstanden, daß eine öffentliche Aufführung dieses Stückes deplaciert ist. Ob das aber zu einem polizeilichen Verbot der Aufführung genügt, weiß ich nicht; etwas eigentlich Unsittliches kann ich in dem Stück nicht entdecken, nur Ungesundes und Verdrehtes, künstlerisch Abstoßendes.“[KSA 6, S. 685] habe, weiß ich im
einzelnen nicht mehr. Ich glaube aber, daß ich mich für Zulassung der
Aufführung ausgesprochen habe. Bestimmt weiß ich auch das nicht mehr, und diese
Ungewißheit dürfen Sie mir nicht verübeln; denn ich habe gerade im vorigen Jahre
mehrere Stücke zu ähnlichem Zweck von der | Polizei erhalten, und da verwischt
und verwirrt sich die Erinnerung leicht. Ferner kann man ja wohl zweifeln, ob
Erörterungen über das von Ihnen behandelte Thema, mögen sie noch so theoretisch
bleiben (oder vielleicht eben, weil sie theoretisch bleiben), auf die Bühne gehören, ob sie nicht viel eher zu einem
Lesedrama passen. Auch scheint mir Ihre ernste Absicht nicht überall deutlich,
so daß kein Mißverständnis möglich ist, herauszukommen, und die Erörterungen,
die Sie jetzt beilegten, die zur Klärung freilich viel beitragen, die fehlten eben
damals noch. Aber da dies alles keine Bedenken gegen die Sittlichkeit des
Stücks sind und wir in der Zensurkommission nur sittliche und nicht ästhetische
Bedenken zu würdigen haben, so glaube ich, ich werde mich vor einem Jahr so wenig gegen für ein Verbot Ihres Dramas ausgesprochen
haben, wie ich es heute täte. Dann aber | ergibt sich die notwendige Folge, daß
ich entweder von andern Mitgliedern der KommissionMitglieder des seit 1908 bestehenden Münchner Zensurbeirats, zu dem Franz Muncker gehörte. überstimmt worden bin oder
daß die Polizeidirektion ihr ‒ von Anfang
an betontes ‒ Recht
gewahrt hat, auf eigne Verantwortung auch einmal gegen die Mehrheit der
Zensurkommission zu entscheiden. Jedenfalls aber kennt die Polizeidirektion
bereits meine Ansicht über Ihr Stück; ich bin also nicht in der Lage, diese
Ansicht noch einmal zur Information der Behörde auszusprechen. Doch könnten
vielleicht Sie die erklärenden Bemerkungen über Ihr Stück der Polizei noch
vorlegenWedekind hat ein solches Schreiben über das Zensurverbot von „Totentanz“ zwar entworfen [vgl. Wedekind an Polizeidirektion München, 25.6.1911], aber wohl nicht abgeschickt.; freilich bezweifle ich, daß das zu einer Änderung ihres Beschlusses
führen wird. Oder wollen Sie Dr. Halbe u. etwa Prof. Dr. Sulger-Gebing, Prof.
Dr. v. Du Moulin, die vermutlich
noch nicht von der Polizei gefragt worden sind, zu einem Gutachten veranlassen?
Leider kann ich, wie Sie mir gewiß zugestehn werden, | in diesem Falle, so wie
die Dinge einmal liegen, nicht Ihnen zu Diensten sein.
Ich lege die beiden gedruckten ExemplareBeilage waren neben handschriftlichen Erörterungen Wedekinds die von Bruno Cassirer in Berlin verlegten Buchausgaben „Tod und Teufel (Totentanz). Drei Szenen“ (3. und 4. Tausend, 1909) [vgl. KSA 6, S. 625] und „Die Zensur. Theodizee in einem Akt“ (1908) [vgl. KSA 6, S. 838]. und Ihre
handschriftlichen Erörterungennicht überliefert. diesen Zeilen wieder bei.
Mit den besten Empfehlungen
hochachtungsvoll
Muncker