(München, XI.1916am 17.11.1916 (siehe die Hinweise zur Datierung)..)
Sehr geehrter Herr Jeßner!Leopold Jessner, Direktor am Neuen Schauspielhaus in Königsberg [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1917, S. 469], hat dort „Hidalla“ inszeniert – unter dem Titel „Karl Hetmann“ (Premiere: 14.10.1916): „Neues Schauspielhaus Direktion: Leopold Jessner. Sonnabend, 8 Uhr: Zum 1. Male: ‚Karl Hetmann.‘ Schauspiel in 3 Alten von Frank Wedekind.“ [Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 483, 14.10.1916, Morgenausgabe, 2. Blatt, S. 178] Ludwig Goldsteins Besprechung dieser Inszenierung (siehe unten) führte zu einer „Auseinandersetzung“ Wedekinds „mit dem Regisseur Leopold Jeßner über die Darstellungsweise seiner Aufführungen“ [KSA 6, S. 540], die dieser brieflich rechtfertigte [vgl. Leopold Jessner an Wedekind, 16.11.1916] und Wedekind daraufhin in dem vorliegenden Brief eine „Antwort“ auf den „Brief Jessners“ [GB 2, S. 374] verfasste.
Wenn Sie eines meiner Stücke anders aufführenfreies Zitat des Auftakts von Ludwig Goldsteins Besprechung [vgl. KSA 6, S. 605-608] der Königsberger „Hidalla“-Inszenierung (siehe oben): „Also es war eine Sensation. Jedenfalls war es so ganz anders als sonst“ [Ludwig Goldstein: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, 2. Blatt, S. 209]., als wie ich
es geschrieben habe, dann üben Sie dadurch öffentlich am Autor Kritik, indem
Sie sein Verständnis für das Theater und seine Wirkungen in Frage stellen.
Durch diese öffentlich ausgeübte Kritik entheben Sie den Autor jeden
Solidaritätsgefühls mit der von Ihnen veranstalteten Aufführung. Nun handelt es
sich zwischen uns aber um jene StückeWedekind verweist außer auf die aktuelle Inszenierung von „Hidalla“ unter der Regie von Leopold Jessner am Neuen Schauspielhaus in Königsberg (siehe oben) auf die des „Marquis von Keith“ am Hamburger Thalia-Theater (Premiere: 25.5.1914), jene „stilistisch neuartige Inszenierung Leopold Jeßners in Hamburg“, die seinerzeit „Aufsehen [...] erregte.“ [KSA 4, S. 535] Keith und Hetmann, von denen jedes über
100 Mal seine durchaus harmonische künstlerische Wirkung in der von mir
vorgeschriebenen Form bewiesen hat. Wenn Sie Aenderungen an meinen Werken
vornehmen, ohne mein Einverständnis dafür einzuholen, so steht es mir wol auch
frei, mich ohne Ihr Einverständnis über diese Aenderungen privatim zu äußernAnspielung auf Wedekinds Korrespondenz mit dem Königsberger Theaterkritiker Ludwig Goldstein [vgl. Wedekind an Ludwig Goldstein, 6.11.1916] über die Königsberger „Hidalla“-Inszenierung.,
nachdem ich der Aufführung wegen öffentlich verhöhnt wordenBezugstext nicht eindeutig ermittelt; möglicherweise in polemischer Zuspitzung Ludwig Goldsteins Besprechung der Königsberger „Hidalla“-Inszenierung (siehe oben). bin. Wenn Sie in
meinen Stücken die vorgeschriebenen Dekorationen weglassenLudwig Goldstein schrieb über Leopold Jessners Königsberger „Hidalla“-Inszenierung: „Kaum eine Spur unseres modernen Theaters mit seinen plastischen Dekorationen!“ [Ludwig Goldstein: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, 2. Blatt, S. 209] oder durch andere
ersetzen, dann nehmen Sie ihnen die Möglichkeit, ihre Aufgabe zu erfüllen, die
im Keith darin besteht, wirkliches Leben zu gestalten, im Hetmann darin,
wirkliches Leben vorzutäuschen. Mich stellen Sie dem Publikum als einen Autor dar,
der darauf ausgeht, abstrakte TheorienLudwig Goldstein hatte über „Hidalla“ Leopold Jessners Inszenierung des Stücks vorab kommentierend geschrieben: „Jeßner wird [...] dem Stück nicht verstandesmäßig, sondern rein künstlerisch beikommen und dementsprechend nur das Ideenspiel betonen“ [Ludwig Goldstein: Wedekinds „Karl Hetmann“. Zur Aufführung im Neuen Schauspielhaus. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 480, 12.10.1916, Abendausgabe, 2. Blatt, S. 153]; zur Inszenierung des Stücks bemerkte er: „aha, dieses höhere Kasperletheater soll gar nicht ein Wirklichkeits-, sondern ein reines Ideenspiel sein“ [Ludwig Goldstein: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, 2. Blatt, S. 209]. auf die Bühne zu bringen, was meinen
künstlerischen Absichten direkt widerspricht und meiner Ueberzeugung nach mit
dramatischer Kunst nichts zu thun hat. Durch einen ausnahmsweise glücklichen
Zufall hatte ich vor kurzemWedekinds „Tod und Teufel“ war unter seiner Mitwirkung am 26.10.1916 in der Bonbonniere als einmalige „nichtöffentliche genehmigte Aufführung“ [KSA 6, S. 701] in München zu sehen gewesen – die drei Szenen wurden von der Kritik gelobt: „In einer nichtöffentlichen Aufführung vor geladenem Publikum bewährten sie die geistige Bändigung des Stofflichen. Durch Wedekinds Mitwirkung blieb dem Stück von vornherein die Haltung gesichert, die es vor jedem Mißverständnis schützte. [...] In dem starken Beifall, den das Auditorium spendete, drückte sich viel Verstehen für die reinen Absichten der Moralgroteske aus.“ [Richard Elchinger: Tod und Teufel. Drei Szenen von Frank Wedekind. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 69, Nr. 518, 11.10.1916, Morgen-Ausgabe, S. 2] in München Gelegenheit, auch für meinen Einakter
Tod und Teufel den Beweis zu erbringen, daß ich darin dramatisch, künstlerisch
und absolut bühnenwirksam gestaltet habe. Umsoweniger kann ich mich darüber
freuen, wenn Stücke wie Keith und Hetmann, für die ich diesen Beweis seit zwölf
und mehr Jahren„Hidalla“ war am 18.2.1905 uraufgeführt worden (vor fast zwölf Jahren), „Marquis von Keith“ am 11.10.1901 (vor fast fünfzehn Jahren). an unzähligen Bühnen erbracht habe, wieder auf den „rein
geistigen Gehaltwohl freies Zitat aus Leopold Jessners Brief – die Formulierung dort: „der ideelle Gehalt Ihres Werkes“ [Leopold Jessner an Wedekind, 16.11.1916].“ hin gespielt werden, den ich ihnen ja deshalb nicht
abstreiten will.