Mein
lieber Frank,
eben lese ich Dr. Trogs Kritik von ErdgeistHans Trog hat in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Rubrik: Feuilleton) die Premiere der „Erdgeist“-Inszenierung am 18.10.1907 im Pfauentheater in Zürich (Regie: Alfred Reucker) mit Johanna Terwin in der Hauptrolle der Lulu besprochen [vgl. KSA 3/II, S. 1231]. Der Feuilletonredakteur schrieb über Wedekinds Tragödie, darin sei „das Weib der Erdgeist, d.h. das Weib in seiner geschlechtlichen Funktion, das unersättliche, das dirnenhafte Weib, das die Männer nur als begehrlich, als Sklaven der Sinnlichkeit kennt und ausbeutet, das jenseits von Gut und Böse nur Geschlecht [...] ist.“ Wedekind habe „diesen unsaubern Geist unter den deutschen Dichtern besser als irgend ein anderer begriffen“; in der Zusammenfassung der Handlung ist bemerkt: „In vier Bildern zeigt uns Wedekind seine Lulu. Im [...] zweiten endet der neue Liebhaber, der Maler, in Selbstmord, weil er, der bisher Arglose, hinter die Unreinheit der Frau gekommen ist; im dritten sehen wir den Redakteur Dr. Schön, der sich endlich den Schlingen der Circe entreißen möchte durch die Heirat mit einem reinen Mädchen, unrettbar Lulu wieder verfallen“ [T.: Theater. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 128, Nr. 292, 21.10.1907, 2. Abendblatt, S. (1)]. in
der N.Z.Z. Es scheint mir, daß er gut schreibt, nur was er da immer von rein
und unrein faselt kann ich nicht ganz begreifen. Als Weib ist doch die Lullu
das Reinste, was man finden kann, es sind ihr doch gar keine andern Stoffe
beigemischt. Sie ist meinetwegen eine unreine Gattin und Hausfrau aber als Weib
an sich | scheint sie mir so rein wie irgend ein Element. Dr. Trogs Kritik interessierte mich, weil ich ihn letzten
Winter als geistreichen IbseninterpretorHans Trog, Feuilletonredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“, interpretierte bei seiner Lesung am 10.11.1906 im literarischen Klub des Lesezirkels Hottingen in Zürich Werke Henrik Ibsens, wie angekündigt war: „Die zweite Wintersitzung des Literarischen Klubs ist dem Gedächtnis Henrik Ibsens gewidmet. Herr Dr. Hans Trog wird den Menschen und Dichter Ibsen an Hand seiner Briefe beleuchten.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 127, Nr. 313, 9.11.1906, 1. Blatt, S. (2)] Bei dieser Lesung, „die dem Gedächtnis Henrik Ibsens gewidmet war, zeigte sich eine zahlreiche Zuhörerschaft mit reichem Beifall dankbar für den sehr anregenden Abend. Hr. Dr. Hans Trog zeichnete durch die Vorlesung von geschickt ausgewählten Stellen aus Ibsens Briefen ein überaus anschauliches Bild des Lebens Ibsens und seines Charakters als Mensch und als Dichter.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 127, Nr. 319, 17.11.1906, 1. Morgenblatt, S. (2)] Der Feuilletonredakteur besprach außerdem aus Anlass der Ibsen-Inszenierungen am Stadttheater Zürich in der Saison 1906/07 unter seinem Verfasserkürzel T. Werke Henrik Ibsens in der „Neuen Zürcher Zeitung“ in seiner Feuilleton-Reihe „Zum Ibsen-Zyklus“ (so etwa am 31.10.1906 und 11.1.1907) sowie unter der Rubrik „Theater“ (so etwa am 2.11.1906 und 13.1.1907). kennen
lernte und er mir überhaupt ein bedeutender Mann scheint. ‒‒
Dies war aber nicht der eigentliche Grund, weshalb ich Dir
schreiben wollte.
Ich wollte Dir schon längst danken für das Vergnügen, das Du mir mit dem BesuchTilly Wedekind war mit ihrer Tochter Pamela vom 11. bis 30.9.1907 zu Besuch bei der Schwiegermutter in Lenzburg. von Deiner lieben Tilly und
Anna Pamela bereitet hast. Tilly’s liebens|würdige und interessante
Unterhaltung war mir ein großer Genuß – die Erinnerung daran hat mir schon
manche frohe Stunde bereitet. Was nun Mama betrifft, so läßt
sie Dir sagen, sie schenkt Dir Tilly’s Erholung hier zu Deinem letzten
GeburtstagWedekinds 43. Geburtstag am 24.7.1907.. Für sie war nun natürlich Anna Pamela die größte Herzensfreude.
Tilly’s Gesellschaft konnte sie nicht so ausgiebig
genießen, da sie zu viel mit dem Haushalt beschäftigt war.
Seit 1. Okt nun sind wir | ganz allein. Die Hausarbeit
teilen wir unter uns womit der Vormittag so ziemlich ausgefüllt ist und im
Übrigen lebt jedes seiner mehr inneren oder äußeren Beschäftigung.
Von Tilly hören wir, daß bei Euch immer viel los ist, wenn
ich mehr das Zeug dazu hätte, wollte ich wohl gern mit dabei sein; ich sehe
aber immer mehr ein, daß ich zur Beschaulichkeit geschaffen bin, in der sich
das bunte Spiel da draußen mit viel Interesse
betrachten läßt. |
Ist Deine Musik schon im BuchDie Buchausgabe von „Musik. Sittengemälde in vier Bildern“ im Verlag Albert Langen ist vordatiert auf 1908 „bereits im Herbst 1907 erschienen.“ [KSA 6, S. 724] erschienen? Wirst Du sie mir
schicken? Du weißt welch regen Anteil ich an Deinem Schaffen nehme. Auch möchte
ich Dich noch um Todtentanz„Totentanz. Drei Szenen von Frank Wedekind“ ist zuerst am 4.7.1905 in der Zeitschrift „Die Fackel“ erschienen; die Buchausgabe im Verlag Albert Langen ist vordatiert auf 1906, wobei das „1. und das 2. Tausend der Buchauflage [...] bereits 1905 ausgeliefert“ [KSA 6, S. 623] wurden. bitten, den ich leider auch noch nicht gelesen
habe. Und dann möchte mir Tilly doch die Melodie zum blinden KnabenWedekind hat die Melodie zu seinem Gedicht „Der blinde Knabe“ („O Ihr Tage meiner Kindheit...“) 1902 komponiert und diese Komposition 1903 überarbeitet, wobei diverse Kompositionsfragmente und eine vollständige handschriftliche Fassung der Noten überliefert sind [vgl. KSA 1/III, S. 70f., S. 586-596].
schicken. ‒
Hat sie wohl meiner Freundin Klaradie „Freundin Clara Marti“ [Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 3.1.1895]. eine Karte geschickt? Die würde sich wohl
außerordentlich darüber freuen.
Und dann noch für mich | den Kopf im Rabbi Esra costümwohl ein Foto von Wedekind in der Titelrolle seiner Szene „Rabbi Esra“; zu seinem Kostüm in dieser Rolle gehörte ein „spitzer Hut“ [Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 1.4.1908]..
So das ist nun wohl alles, was ich sagen wollte.
Seid alle drei herzlichst gegrüßt von Eurem
Mati.
Mama läßt auch grüßen und Tilly für ihren lieben BriefTilly Wedekinds Brief an ihre Schwiegermutter Emilie Wedekind ist nicht überliefert.
danken.