Lenzburg
2. Juni 1903.
Mein lieber Frank!
Wir freuen uns sehr auf dein HerkommenWedekind ‒ er hatte der Mutter in Aussicht gestellt, im Sommer nach Lenzburg zu kommen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.5.1903] ‒ verbrachte den Sommer 1903 in Lenzburg. Mitte Juli war er dort [vgl. Wedekind an Franz Blei, 19.7.1903] und blieb bis Mitte September [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 17.9.1903]; wahrscheinlich kam er in Lenzburg an, unmittelbar nachdem Mati ihre im vorliegenden Brief genannten Lehrverpflichtungen vom 29.6.1903 bis 15.7.1903 hinter sich gebracht hatte..
Besonders ich fühle das große Bedürfnis, michirrtümlich nicht gestrichen. nach langer Zeit wieder einmal
von einer gewaltigen RaketeFeuerwerkskörper (bildlich gemeint). in die Lüfte getragen zu werden.
Ich habe mich gestern nach einem Zimmer für Dich
umgeschaut. | Drüben in der Krone die seit dem neuen Besitzer eines der
ruhigsten Häuser geworden, ist ein hübsches zweifenstriges Zimmer für Dich zu
haben. Im zweiten Stock die ersten zwei Fenster zwischen dem KoridorSchreibversehen, statt: Korridor. und dem
obern Saal. Es soll im Monat auf 20 frs. kommen. Jedenfalls wärest Du da
ungenierter und ungestörter, als in irgendeinem Privathaus. Dann | bist Du auch
mit einem Sprung bei uns drüben im schönen Garten, wo Dir das Badehaus jeder/zum/
Arbeiten jederzeit zur Verfügung steht. Dann kannst Du auch zu uns zum Essen
kommen oder drüben essen, ganz wie es Dir gerade paßt. Daß Du dich hier aufs
Radeln freust, glaube ich wohl. Nirgends in der Welt mag die Gegend dazu
lieblicher eingerichtet sein, | als hier um Lenzburg, aber ich fürchte das ist
wird für Dein armes BeinWedekind hatte sich einige Wochen zuvor das Bein gebrochen, worüber die überregionale Presse berichtete: „Frank Wedekind glitt in München auf der Straße aus und erlitt einen Beinbruch.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 8, Nr. 176, 16.4.1903, Abend-Ausgabe, S. (1)] In Wien: „Schriftsteller Franz Wedekind ist in München auf der Straße gefallen und hat sich den Fuß gebrochen.“ [Die Zeit, Jg. 2, Nr. 197, 17.4.1903, Morgenblatt, S. 7] eine etwas gefährliche Nachkur werden. Seit meinem
Hiersein habe ich es noch nicht wieder versucht, werde es dann aber doch tun,
wenn ich Dich zur Gesellschaft habe. Fährt denn Graf Kaiserling auch? Es ist
sehr freundlich von ihm, wenn er auch herkommen will, ich | freue mich ihn näher
kennen zu lernen, denn er machte mir damals in der kurzen Zeit einen ange/äußerst/
angenehmen Eindruck.
Wenn Du vor Mitte Juli kommst, werde ich in der
Zeit nicht viel von Dir haben können, da ich vom 29. Juni bis 15 Juli hier an
der oberen Mädchenschule unterrichten muß für Frl. HämmerliMarie Hämmerli ‒ vermutlich eine Verwandte von Sophie Haemmerli (geb. Marti) ‒ war seit 1886 über viele Jahrzehnte als Lehrerin an der oberen Mädchenschule in Lenzburg tätig [vgl. R. F.: Marie Hämmerli †. In: Schweizerische Lehrerinnen-Zeitung, Jg. 58, Heft 19/20, 20.7.1957, S. 313-314]., die sich operieren
lassen will. Das darf | Dich aber nicht abhalten zu kommen so bald als möglich
und Du Lust dazu hast.
Hat Dich die Karte von Sophie nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Sophie Haemmerli-Marti an Wedekind, 7.5.1903.gekränkt? Sie
erlaubte sich diesen Scherz, weil ihr Dein Marquis von KeithWedekinds „Marquis von Keith“ hatte am 30.4.1903 in Wien im Theater in der Josefstadt (Regie und Titelrolle: Josef Jarno) mit großem Erfolg und Presseecho Premiere gehabt und war in aller Munde.
so außerordentlich gut gefallen hat. Ich habe ihn zu PfingstenPfingstsonntag war am 31.5.1903, Pfingstmontag am 1.6.1903. auch wieder
gelesen. Ich spüre die gute Wirkung davon immer noch lange nachher in meiner
innern | und äußern Haltung. Aber wenn man so außer der Welt lebt, dann
verwischen sich die Eindrücke allmählich im/und/ man klappt
wieder zusammen. Nicht jeder ist eben ein Kunstwerk, wie Du es vom Menschen
verlangst und diejenigen die einem dazu verhelfen könnten es annähernd zu
werden, die wenden sich stillschweigend von einem, wahrscheinlich mit mit
| dem mitleidigen Gedanken: Armes Mati, das sind für d/D/ich versunkene
Raketen! ‒‒‒
Darum komm recht bald und erfreue uns mit Deiner
lieben Gegenwart.
Dein altes
Mati.
Tausend herzliche Grüße von Mama.