Mein lieber Beby!
Die Bücher und das
Übrige wirst Du wohl bekommen haben; aber auf meinen Brief hast du leider bis
heute warten müssen. Meine Freundin Clara Marti verhalf mir zu diesem Heftein Heft mit Liedern, das Wedekind von der Schwester erhalten hatte. das
vom LiederkranzGesangverein; hier wohl ein Gesangverein oder ein Lyrikkreis in Othmarsingen in den 1880er Jahren. Sophie Haemmerli-Martis erster in Othmarsinger Mundart verfasster Gedichtband „Mis Chindli“ (1896) trägt den Titel „Ein Liederkranz für junge Mütter“. in der | Zeit benutzt wurde, als Strindberg in OthmarsingenDer schwedische Schriftsteller August Strindberg verbrachte im Sommer 1886 einige Wochen in Othmarsingen (im Gasthof Zum Rössli) im Kanton Aargau, dem Geburtsort von Sophie Haemmerli-Marti.
war. Das andere Buch ist in der Schule in Gebrauch. Mehr konnte ich nicht
auftreiben. Hoffentlich sind die beiden Bändenicht ermittelt (zwei Liederbände, darunter das genannte Heft); sie waren jedenfalls für August Strindberg in Paris bestimmt, übergeben von Wedekind, der sich insofern noch in der Stadt aufgehalten muss. geschaffen Strindberg’s trübe
Stunden zu erheitern.
Hoffentlich kommst Du bald zu uns. Mir scheint es
jetzt ganz gemüthlich bei uns. Mama geht es allerdings nicht sehr gut. Wir
waren über Weihnachten in Zürich und das hat ihr gar nicht gut getan. Sie sieht/hat/ sich sehr, sehr
verändert aus seit Du sie nicht mehr gesehen. Wie ich ungefähr aussehe
weißt Du ja jetzt. Mama ist sehr aufgeregt und wenn man in Versuchung kommt
Äußerungen von ihr zu empfinden, muß man sich eben immer sagen, daß sie
krank istWedekind war bereits im Vorjahr von seinem Bruder über den „sehr schlechten Gesundheitszustand“ [Donald Wedekind an Frank Wedekind, 28.4.1894] der Mutter informiert worden, bekam allerdings auch die Meldung: „Mama geht es bedeutend besser“ [Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.6.1894].. Seitdem das Wetter hier so schlecht ist und sie nicht hinaus gehen
kann ist sie auch wieder viel schwächer und schläft in Folge dessen sehr viel
über Tag. |
Denk dir mal Mieze hat mir ’ne goldene Uhr zum
Weihnachten geschenkt, ist das nicht großartig. Sie kommt im März hierher d.h.
nach Zürich und giebt dort 3 Gastspiele. Einen Abend singt sie hier im Concert.
Wo’s was zu tanzen giebt, da mach ich hier mit. Ich bin sehr oft bei Sophie
Hämmerli. Sie ist so eine liebe Frau und ich glaube wir verstehen uns ganz gut.
Dann verkehre ich noch mit Henckelsdie Geschwister Gustav, Karl und Thea (Dorothea) Henckell.. Thea ist seitdem sie endlich mal verlobtThea (Dorothea) Henckell heiratete 1896 den Lenzburger Bezirksschullehrer Dr. Arnold Hirzel, der in Aarau wohnte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 122].
war, ganz artig. Am Silvester gaben wir ein Nachtessen wobei Pfarrerseine Pfarrersfamilie; nicht eindeutig ermittelt., deren
Großmutter, Tante, Gustav, Sadi und Thea Henckell, Frau Wyß mit ihrer Tochter Anna und Tante Geiler
waren.
Wenn Du nur recht, recht bald kommst. Wir freuen
uns furchtbar darauf. Doda hat uns schon ein paar lange BriefeÜberliefert ist einer davon, Donald Wedekinds Brief aus Berlin vom 13.12.1894 an die Mutter Emilie Wedekind in Lenzburg [Aa, Wedekind-Archiv A II Donald Wedekind, b Autographen], aus dem die Schwester gleich darauf referiert [vgl. unten die Erläuterungen zu den Berlinern und zur Gesellschaft Donald Wedekinds in Berlin]. geschrieben.
Seine AdresseDonald Wedekind wohnte in Berlin in der Belle-Alliance-Straße 98 (2. Stock rechts) in Untermiete bei der Kaufmannswitwe H. Bölter (geb. Borrmann) [vgl. Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1895, Teil I, S. 123]. Frank Wedekind hat die Adresse des Bruders benötigt, denn er reiste bald darauf von Paris ab nach Berlin, wo er am 20.1.1895 eintraf [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 169]. ist: Belle Alliance-Straße 98 II rechts, Berlin.
Er findet die Berliner schrecklichDonald Wedekind schrieb am 13.12.1894 [vgl. oben die Erläuterung], Berlin sei „das Non plus ultra von einer unangenehmen Stadt, ungefähr mit New York auf eine Stufe zu stellen was Ungemütlichkeit des öffentlichen Lebens anbetrifft, die Menschen aber sind unvergleichlich roh und tragen sämmtlich einen unverkennbaren Stallknechtsduft mit sich herum. Der ist nun nicht eingewurzelt, sondern nur äußerlich aber er verbirgt so ungeheuer die gute Natur des Schlages, daß man es aufgiebt darnach zu suchen.“, sagt aber | daß
er bei HartDonald Wedekind meinte die Brüder Heinrich und Julius Hart., Hartleben, KampfmeierWelcher der beiden Brüder gemeint ist, Paul Kampffmeyer oder Bernhard Kampffmeyer, ist unklar. und Bölsche immer in angenehmer GesellschaftDonald Wedekind schrieb am 13.12.1894 [vgl. oben die Erläuterung] über seine Sozialkontakte in Berlin: „Meine Bekannten haben mich so liebenswürdig empfangen, wie ich es gar nicht besser wünschen konnte. Namentlich Herr Boelsche und Herr Kampfmeyer, die beide in ihrem eigenen Haus in Friedrichshagen, einem Vororte Berlins wohnen, führen ein sehr, sehr angenehmes Leben, und lassen eine Gastfreundschaft walten, wie ich sie nur in Amerika gefunden habe. Man fühlt sich sehr, sehr wohl bei den ungezwungnen Leuten und so pilgere ich denn wenn ich mich ganz heimisch fühlen will und mal einen Schnak machen möchte, und ein gesundes Mittagessen haben will, dort hinaus, wo ich gewöhnlich über Nacht bleibe. Wohlverstanden, davon habe ich bis jetzt nur zweimal Gebrauch gemacht, aber es war jedes Mal ein Licht für mich und ich glaube für die Andern auch. Ebenfalls so liebe Leute sind die Gebrüder Hart, die in dem gleichen hübschen Villenort wohnen und die ich auch bei Kampfmeyer treffe. Außerdem bin ich in einen Club eingeführt, wo ich jeden Freitag mit Sicherheit einen alten Bekannten finde, sei es John Henry Mackay, Hartleben oder die Friedrichshagener.“
ist und daß diese alle reizend gegen ihn sind. Der Häusermann erkundigte sich
letzthin sehr angelegentlich nach Dir und die Annivermutlich eine ehemalige Hausangestellte auf Schloss Lenzburg, die nun im Steinbrüchli, seit 1893 Wohnhaus der Mutter in Lenzburg, einen Neujahrsbesuch machte. war heute auch da um uns ein glückliches neues Jahr zu
wünschen. Wir sagten ihr daß du vielleicht bald herkommst und da sagte sie: „He
no s’ weert denn wieder öppis müese go!(schweiz.), etwa: „Na ja, es wird dann schon wieder etwas los sein!““
Ich wünsche Dir alles Gute und Glückliche zum
neuen Jahre. Hoffentlich hast Du Dich mittlerweile aus der Abhängigkeit befreit
das/ie/ Dich während Deinem letzten
Schreibennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 22.12.1894. offenbar sehr bedrückte, und kommst recht, recht bald zu uns. Es ist gerade
in diesem und im nächsten Monat so schöne Ruhe bei uns. Mama steht selten vor
10 Uhr auf, sondern gewöhnlich noch später. Im März kommt | dann schon wieder
Mieze, die viel Aufregung und Lärm mit sich bringt. Wenn Du da bist mußt Du dich
aber nicht daran stoßen wenn Mama sich hinsetzt und ihre Zeitung liest während Du vielleicht
gerade im Sinn hast Dich mit ihr zu unterhalten. Doda machte deßwegen einmal
furchtbaren Lärm. Heute Abend bekam Mama eine Rechnung von Prof. EichhorstHermann Eichhorst war seit 1884 als Professor für Innere Medizin und Direktor am Züricher Kantonsspital. von 75 frs. für einen einzigen Besuch den er auf
Hammi’s Ersuchen während ihrer Krankheit hier gemacht hat. Sie weinte vor
Empörung darüber daß er ihr solche Rechnung schicke dafür daß er sie krank
gemacht habe. Ich weiß daß Du auch verstehst wenn ich Dir dies alles von Mama schreibe.
Ich würde es nicht thun, wenn ich nicht möchte daß Du Dich bei Deinem Hiersein
behaglich fühlst, denn das kannst Du entschieden nur, wenn Du Mama ihre Art und
Weise vollkommen begreifst | und fassen kannst, was eben ganz unmöglich ist,
wenn man nicht immer um sie ist.
Wir haben einen lieben großen Kater hier,: den B/A/lten
Bauz. Du hast ihn ja gesehen wie er noch ganz klein war. Er ist sehr lang,
hochbeinig und etwas blasirt und sitzt eben graziös an den Kohlenkasten gelehnt
auf dem SmirnateppichSmyrnateppich; nach der Stadt Smyrna benannter, orientalisch gemusterter handgeknüpfter Teppich aus Wolle. beim Ofen. Sein Pathe ist Karl Henckell und das sieht man
ihm entschieden an.
Komm recht bald und nimm inzwischen die beste
TuppiKüsschen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 17]. von Deinem alten
Mati.
Den Rest des Abends verbringe ich in Gesellschaft von Tolstoy’s „Anna Karenina.“