Kennung: 2132

Darmstadt, 1. Juni 1889 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Emilie (Mati)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

DarmstadtEmilie (Mati) Wedekind besuchte spätestens seit Anfang Mai 1889 das „Darmstädter Mädchenpensionat zur Förderung des Fremdsprachen-, Literatur-, Zeichen- und Musikunterrichts“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 323], das von den unverheirateten Schwestern Charlotte und Sophie Wider in Darmstadt (Hügelstraße 6) als Pensionsvorsteherinnen geleitet wurde [vgl. Adressbuch von Darmstadt 1889, S. 170], ein privates evangelisches Pensionat. In einem Nachruf auf die am 11.3.1903 in Darmstadt verstorbene Charlotte Wider [vgl. Todes-Anzeige. In: Darmstädter Tagblatt, Jg. 166, Nr. 37, 13.2.1903, 2. Beilage, S. 12] wurde an die „beiden Schwestern Sofie und Charlotte Wider [...], die Zwillinge [...] in Darmstadt“ erinnert, wobei Charlotte Wider zu den „Stillen“ gehört habe, „die geräuschlos [...] wirken an dem großen Werke [...] der Nächstenliebe.“ [M. (Marie) Loeper-Houselle: Charlotte Wider †. In: Die Lehrerin in Schule und Haus, Jg. 19, Nr. 23, 7.3.1903, S. 723f.] Sichtbar ist auch ein anderes Profil: „In Darmstadt ist Frln. Charlotte Wider, eine in den Kreisen der Frauenbewegung wohlbekannte Persönlichkeit, gestorben.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 106, Nr. 49, 18.2.1903, 2. Abendblatt, S. 4]. d. 1 Juni.


Mein lieber Bruder!

Da ich eben nichts zu thun habe wollte ich die Gelegenheit provitirengemeint ist: profitieren = nutzen. um mit dir ein wenig zu plaudern. Wie Du vielleicht nebenbei ein Mal gehört hast, hat am 11. Mai meine ConfirmationEmilie (Mati) Wedekind wurde dem vorliegenden Brief zufolge am 11.5.1889 in Darmstadt konfirmiert, einem Samstag. Die im Brief ebenfalls erwähnte Prüfung am 4.5.1889 in der Darmstädter Stadtkirche (Kirchstraße 11) fand wohl gemeinsam mit der vorbereitenden Prüfung von Schülerinnen der Stadtmädchenschule statt, die am 5.5.1889 (Sonntag) in der Stadtkirche konfirmiert wurden: „Konfirmation der Stadtmädchenschule [...]. Vorbereitung am Tag vorher Nachm. um 2 Uhr.“ [Darmstädter Tagblatt, Jg. 152, Nr. 87, 5.5.1889, S. 1252] stattgefunden. Nun ich will dich mit dieser so uninteressanten Epistellängerer Brief. nicht so sehr langweilen. Aber zu gleicher Zeit möchte ich dich auch | fragen ob Du überhaupt noch lebst. Du hast seit WeihnachtenFrank Wedekind und seine jüngste Schwester Emilie (Mati) Wedekind dürften sich Weihnachten 1888 in Lenzburg zuletzt gesehen haben nichts mehr von deiner werten Person hören lassen. Du hast wohl viel zu viel mit deinen alten, oder vielmehr jungen KunstreiterinnenAnspielung auf die beiden Töchter des Zirkusartisten „Tom Belling, der Schöpfer der Figur des dummen August, [...] Ella und Viktoria“ [KSA 5/II, S. 561], an die Wedekind sich in einem Essay („Luisa und Radiana“) erinnerte, der zuerst am 1.4.1917 im „Berliner Tageblatt“ erschien, auf ein Gespräch am 27.3.1917 mit dem Feuilletonredakteur zurückgehend, das er im Tagebuch notierte: „Besuche Paul Block auf dem B.T. Erzähle ihm von Ella und Victoria Belling.“ Die Schwestern waren als Drahtseilartistinnen beim Zirkus Herzog aufgetreten, der vom 6.7.1888 bis 8.10.1888 in Zürich-Riesbach gastierte [vgl. KSA 5/III, S. 544]. Insbesondere für die eine der Artistinnen, die ihm auch als Kunstreiterin imponierte, interessierte sich Wedekind: „Ganz besonders von den Leistungen der schönen Ella war ich derart hingerissen, daß ich mir von der Redaktion der ‚Neuen Züricher Zeitung‘ die Erlaubnis erbat, einige Artikel über die Ästhetik des Zirkus schreiben zu dürfen. Selbstverständlich hatte ich längst ein glühendes Liebesgedicht auf Ellas Reize gemacht und flocht dies Gedicht gleich dem zweiten meiner Feuilletonartikel ein.“ [KSA 5/II, S. 561] Der am 2. und 5.8.1888 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlichte Essay „Im Zirkus“ ist ohne dieses Liebesgedicht erschienen, würdigt „Frl. Ella Belling“ [KSA 5/II, S. 144] aber als Seiltänzerin. Das dem Manuskript des Essays beigelegte, an sie gerichtete Gedicht „Frl. Ella Belling“ (1888) ist verschollen [vgl. KSA 1/II, S. 1800]; erhalten ist in Wedekinds 1888 in Zürich geführten Kollegheften ein Fragment [vgl. KSA 1/I, S. 778] und eine vor dem 5.8.1888 entstandene vollständige Reinschrift [vgl. KSA 1/II, S. 1802] dieses Gedichts „Lichte Perle, leuchtende Rose...“ [KSA 1/I, S. 271f.]. Wedekind hat die Zirkusartistin auch als Kunstreiterin gewürdigt, in „Ella Belling, die Kunstreiterin“ [KSA 5/I, S. 134-138], das erste seiner „Interviews“ im „Simplicissimus“ [Jg. 1, Nr. 30, 24.10.1896, S. 6]. Später komponierte und textete er noch das Tanzlied „Frl. Ella Belling. Sonne, Mond und Sterne“ (1917) [vgl. KSA 1/IV, S. 1082]. zu thun.

Ich habe letzthin in der Zeitung gelesen daß der BruderElla Belling hatte drei Brüder, die Wedekind bekannt waren: „Gobert, [...] Thomas und Clemens“ [KSA 5/II, S. 561]; welcher gemeint war, ist unklar, da die Pressemeldung nicht ermittelt ist, die Emilie (Mati) Wedekind gelesen hat. deines Schwarms Frl. Ella Belling 75000 Mark gestohlen hat.

Was treibst Du eigentlich in deinem langweiligen München Du alter Kümmeltürke„studentisch gleich philister, [...] bekannt als Schimpfwort“ [DWB, Bd. 11, Sp. 2592].. Denke dir, Pfarrer EgerKarl Eger in Darmstadt (Hügelstraße 30) war „Pfarrassistent“ [Darmstädter Adreßbuch 1890 Nachtrag sowie Handels-Register, S. 9], dann „Hilfsprediger“ [Adressbuch von Darmstadt 1892, Teil II, S. 36], dann erst „Pfarrer“ [Adressbuch der Haupt- und Residenzstadt Darmstadt 1893, S. 31]. mein Pastor der mich | konfirmirt hat raucht auch Pfeifen wie Du. Er ist erst 25 Jahre alt, aber ‒ leider ‒ schon ‒ verlobt..... Ist das nicht traurig. Spekuleschenwohl Wortschöpfung aus: Spekulation = hypothetische Überlegung. ist vorbei, aber mir ist’s einerlei. Im Gang und in der Ganzen Figur sieht er gerade aber auch ganz exakt so aus wie SadiSpitzname Karl Henckells auf Schloss Lenzburg [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 139]. Henckell. Im Gesicht sieht er Doda sehr ähnlich. Er hat den selben Schädel/Kopf/ und die selbe Nasen. Er ist überhaupt ein goldiger Mensch. | Er ist immer so galant gegen uns Pomzenwohl umgangssprachliche Kurzform für Pomeranzen (= junge, unbedarfte Mädchen vom Land).. Einmal kam er dichSchreibversehen, statt: dicht. hinter uns in die Confirmantenstunde. Da warteten wollten wir ihn zuerst hinein lassen. Aber er ließ es nicht geschehen wir mußten zuerst hinein. Und auf der Straße dockeltdockeln, das ist: toggele (schweiz.) = locker sein, wackeln. er immer. Ach Der ist anders als die Lenzburger Schulmeisterchen. Ach er ist halt so herzig. Ich bin alsemal(südhess.) gelegentlich. so verrückt daß ich ihm grad ’ne TuppiKüsschen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 17]. geben möchte. Er hat noch keinen Bart da sind die Tuppis doch | süße Tuppis. Siehst du daß ist noch eine Pracht so einen blondhaarigen und blauäugigen Jüngling vor sich zu haben. Letzten Samstag vor 8 Tagen hat er sich scheerenscheren = rasieren. lassen. In der Confirmandenstunde bekuckte er immer seinen Ehering und dann wenn wir lachten wurde er immer rot bis über die Löffel. Aber Du hättest ihn erst sehen sollen wenn er begann uns von der Liebe gegen unsere Nächsten zu predigen. Dann wurden sogar seine Nasenspitze ganz glühend. Er hat uns immer gefragt ob wir und wann wir Confirmandenstunde haben wollten. Nach der Stunde wurde er immer bestürmt und dann mußte er uns | noch seine Erlebnisse E mittheilen. Wir hatten 8 Tage vor der Confirmation in der Stadtkirche eine Prüfung. Wir mußten darauf hin 75 Sprüche lernen. Den Tag vorher haben wir ihn noch alles gefragt. Eine Ich fragte ihn: „Und wenn wir nun Ihre Frage nicht beantworten können was giebt es dann.“ Und denke dir einmal an er antwortete mir: „Wenn du auf „Sei nur ganz ruhig, wenn du nichts weißt so frage ich dich schnell etwas anderes.“ Ist das nicht ein fammoserfamos = fabelhaft; ausgezeichnet; großartig. Kerl. Wir mußten die zehn Geboteaus der Bibel [vgl. Exodus 20,1-17], die Erklärungen dazu aus einem Katechismus. mit allen Erklärungen von welchen jede eine halbe Seite lang | ist ganz auswendig lernen. Das konnte ich nun natürlich nicht. Ich habe es ihm gesagt daß ich es nicht konnte. Und denke dir der Kerl machte wirklich daß ich nicht mehr dran kam. Er geht jeden Morgen und jeden Mittag an unserm Haus vorbei und dann guckt er immer so herzig schepschepp (südhess.) = schief. herauf. Du darfst mir nicht übel nehmen daß ich dir so verrücktes Zeug schreibe. Wir waren/haben/ letzthin eine Partie mit ihm gemacht. Denke dir er hat auf Lotta Langhans, (Es ist eine Pensionärin von Widersdie Pensionsvorsteherinnen Charlotte und Sophie Wider. welche auch mit mir k confirmirt wurde) be und mich | bei unserm Hause gewartet und ist mit uns bis auf den Bahnhofwohl der Hessische Ludwigs-Bahnhof in Darmstadt (Bahnhofstraße 3). gegangen Ich sage dir es war kostbar er hat auf dem ganzen Weg geplappert. Er hat mir gesagt wie ich einmal in der Stunde bei ihm rot geworden wäre, und als ich sagte es wäre nicht richtig ich würde nie rot, hat er gesagt, er hätte es ganz genau gesehen wie ich immer röter geworden wäre. So hat er geschwatzt bis wir am Bahnhof waren.

Jetzt muß ich aufhören sonst werde ich noch verrückt.

Deine treue
Schwester


[Seite 1 oben unter den durchgezogenen Linien um 180 Grad gedreht:]

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Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Unter der Datumszeile sind mit Tinte drei durchgezogene Linien auf das Papier gebracht. Wedekind hat unmittelbar unter der Datumszeile das Jahr („89“) mit Bleistift handschriftlich ergänzt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der lediglich mit Tag und Monat datierte Brief ist Wedekinds Notiz unter der Datumszeile zufolge (und durch textexterne Indizien in Verbindung mit dem Schreibort) im Jahr 1889 geschrieben worden.

Der Empfangsort ist durch das Tagebuch belegt, die Zwischenstation auf dem Postweg geht aus dem Briefinhalt hervor.

  • Schreibort

    Darmstadt
    1. Juni 1889 (Samstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Darmstadt
    Datum unbekannt

  • Zwischenstation

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 308
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 1.6.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (03.12.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

06.10.2021 12:30