Meine liebe Mieze,
das war ein edler Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Erika Wedekind an Frank Wedekind, 29.8.1900.. Ich gratuliere. Deswegen
mußte ich 10 Tage langvon Wedekinds Brief vom 24.8.1900 an gerechnet [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 24.8.1900] bis zum vorliegenden Brief vom 3.9.1900 sind es 10 Tage. in Ungewißheit gelassen werden wegen einer Gefälligkeit
die auch nicht einen Pfennig gekostet und mir unendlich geholfen hätte;
deswegen weil dein lieber Mann einen Achtungsbeweis nötig hatte! Wäre es nicht
doch vielleicht richtiger gewesen, mir gleich zu schreiben: Du hast uns
beleidigt; wir wollen nichts mehr mit Dir zu thun haben! ‒
Was verspricht sich denn dein Mann von dem für
mich demütigenden BriefWedekind meint hier seinen Brief vom 30.8.1900 [vgl. Frank Wedekind an Walther Oschwald, 24.8.1900]., den er jetzt von mir in Händen hat? ‒ Es muß doch etwas von Bedeutung sein, daß er
sich nicht | scheut, ihn sich durch eine Geldangelegenheit zu verschaffen. Daß
man für Geld auch Achtung erkaufen kann ist eine alte Wahrheit. Freilich steht
diese Achtung unter Menschen von anständiger Denkungsart sehr tief im Kurs. Was
beabsichtigt s/d/ein Mann mit meinem Briefe zu thun, daß er ihn so
theuer erkauft? Will er ihn drucken lassen? Will er sich vor seinen
Verwandten damit brüsten? Oder vor seinen VorgesetztenDer Jurist Walther Oschwald, Schulfreund von Arnim und Frank Wedekind und seit dem 15.10.1898 mit Erika Wedekind verheiratet, war bei der „Eisenbahn-Betriebs-Direktion Dresden-Altstadt“ (Hauptbahnhof) als Finanz-Assessor in der Funktion „Juristischer Hilfsarbeiter“ [Adreßbuch für Dresden und seine Vororte 1900, Teil III, S. 28] tätig; sein unmittelbarer Vorgesetzter war Carl Hermann Andrae, „Eisenbahndirektor“ [ebd.]. Generaldirektor der Königlichen Generaldirektion der Sächsischen Eisenbahnen war Hans Friedrich Carl von Kirchbach, sein Stellvertreter Hugo Otto Donath, „Geheimer Finanzrath, zugleich Vorstand der I. (Allgemeinen Verwaltungs-)Abtheilung“ [ebd., S. 24].? ‒ Mir kann es gleichgültig sein; ich habe das eine
so wenig wie das andere zu fürchten. Allerdings bin ich auch nicht in der
unglücklichen Lage vor Witzen zittern zu müssen, die in meiner Umgebung
gerissen werden. Und wenn im Tingeltangel ein Spottlied über mich gesungen
wird, dann ist es mir ein Vergnügen, es mir anzuhören. Ich bin nicht so armselig,
daß ich auf Mittel und Wege sinnen muß, um es zu unterdrücken. |
Dein Mann hätte sich auch sagen können, daß der
Streit zwischen uns nicht meinet- sondern Donalds wegenDonald Wedekind befand sich ärger noch als Frank Wedekind in großer Geldnot; auf ihn kommt Frank Wedekind in seiner Korrespondenz mit seinem Schwager mehrfach zu sprechen (siehe seine Briefe an Walther Oschwald aus dieser Zeit). entstanden war, daß es
also mindestens menschlich verzeihlich ist, wenn ich meinen Bruder, der
schließlich bis jetzt s/d/och ein armer bedauernswerther Mensch ist, in Schutz nehme.
Aber das ist eine Logik für die deinem Manne jede Spur von Verständnis zu
fehlen scheint. Sonst hätte er mir auch unmöglich auf die Art und Weise
gratulieren können wie er es gethan hat.
Ich glaube ich schrieb letzten Donnerstagvgl. Wedekind an Walther Oschwald, 30.8.1900. an
deinen lieben Mann, daß ich ihn um den behaglichen Comfort in dem er lebt,
beneide. Das ist ein Ausspruch den ich feierlich wiederrufen muß. Dieser
Comfort scheint mir zu theuer erkauft durch eine Denkungsart, wie ich sie in
meiner Umgebung noch bei keinem Menschen getroffen habe.
Damit bin ich dein treuer Bruder
Frank.
München. 3. Sept. 1900.