Schloss
Lenzburg, Juni 1881.
Lieber Freund.
Verzeih mir dass ich über Deinem/n/ lieben Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 21.6.1881. nicht gelacht, sondern
bittere Thränen des Mitleides geweint habe. Im innersten Herzen hat es mich
gekränkt zu entdecken auf welch schwindelndem Wege d/D/u
dahineilst ohne zu bedenken, dass ein einziger Fehltritt Dich Dein glückliches
Dasein auf dieser Erde kosten würde. Es wird d/D/ich befremden, solch
ernste Worte aus meinem Munde zu hören, aber schreibe es meiner unermesslichen
Liebe zu, dass ich nicht um hin kann, Dir einen warnenden Lichtstrahlvermutlich in Anlehnung an die Anthologie „Lichtstrahlen aus Ed.[uard] v.[on] Hartmann’s sämmtlichen Werken“, die mit einer Einleitung von Max Schneidewin soeben in Berlin erschienen war [vgl. Börsenblatt des deutschen Buchhandels. Jg. 48, Bd. 2, Nr. 108, 12.5.1881]. Zur intensiven Auseinandersetzung mit der Philosophie Eduard von Hartmanns war Wedekind angeregt worden durch seinen Deutschlehrer Goswin Karl Uphues, einem Schüler des Philosophen, und durch die philosophierende „Tante“ Olga Plümacher, die sich seit 1874 mit Eduard Hartmann beschäftigte, und die Anthologie Wedekind zum Geburtstag (24.7.1881) schenkte [vgl. Kutscher 1, S. 46]. in Deine
tief-dunkele f Finsterniss zu senden. |
Du erinnerst Dich villeichSchreibversehen, statt: vielleicht. noch daran, dass ich in früheren Zeiten vergeblich Deinen
streng christlichen Glauben bekämpfte, dass Du noch ganz vertrauensvoll in dem s/S/choose
der Kirche ruhtest. Damals wutt/ss/te ich im v/V/oraus, dass auch
Du bald umschlagen werdest, wie es nunmehr auch eingetroffen ist.
Nun aber bitte ich Dich inständig um Deines Seelenheils w/W/illen,
nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben und nicht an einen Gott zu glauben, der
kein g/G/ott mehr ist, und dadurch, dass Du ihn Dir als feindliche Macht
einbildest, d/D/einer Freiheit vollständig
zu Grunde zu richten. In Deinem Briefe bejahst Du D die
Allmacht Gottes, verneinst aber Seine Güte. So bist Du ein der moralisch am tiefsten gesunkene Mensch Weg,
denn der Böse (Gott) hat vollständige Macht über Dich; | seiner Allmacht kannst
Du nicht widerstehen, Du bist ein Sclave. Nun frage ich Dich aber, was
kann Gott nur sein, was ist sein Wesen? – Sein Wesen, er sl
selbst, ist D die Liebe! – Wenn Du also einen Gott (Liebe zu Dir)
anerkennst und diesen Gott Deinen Feind nennst, so bist Du ein
Gotteslästerer. Mit Deiner e/E/rlaubniss ziehe ich noch weitere
Folgen daraus: Wenn Du als Gotteslästerer auf diesem falschen Wege bist, so
muss Gott, in seiner Liebe besonders freundlich und
wohlwollend Dir entgegentreten, denn Du bist ein verirrtes Schaf. Du erkennst
nun aber seine Güte nicht und bist ein Dummkopf. – Nun will ich Dich
aber mit Deiner Erlaubniss aus einem Sclaven, einem Gotteslästerer, einem
Dumkopf zu einem Freien, einem Frommen und einem Weisen machen. Der Stein über
welchen Du bei d/D/einen atheistischen Bestrebungen ge|stolpert bist,
war Deine Ohnmacht und Gottes Allmacht. Ich frage Dich: „warum hast
gehört Dir Du keine Allmacht“?
– Deine Antwort: „Weil ich nicht Gott sein kann!“ Nicht wahr? – Nun kehre ich
die Sache um: „Warum hat Gott keine Allmacht?“ Die Antwort: „Weil er nicht
Mensch sein kann!“ Er kam/nn/ nicht Alles, er ist nicht allmächtig. Ein
Gott aber ohne Allmacht und Liebe, (Letzteres brauch ich Dir ja nicht mehr zu
beweisen.) ein solcher Gott ist widerspruchsvoll, er existirt also nicht! Wer
ist nun aber noch das höchste Wesen in der Schöpfung? – Das bist Du, denn Du
kannst andere unter z wohl hie
und da zwingen zu etwas; Du selbst dagegen bist unbezwinglich, der Tod würde d/D/ich
frei machen. Du bist ein Freier! Als höchstes Wesen in Deiner Umgebung
hast Du Dich selbst am meiss/s/ten zu ehren, zu | verehren, (möchte ich
lieber sagen). Du bist also fromm. Und wenn Du Dies
begriffen hast, so wird Dein verlangend HerzWedekind nahm hier Bezug auf seinen Ausruf „Verlangend Herz, sei Du Dir selbst genug.“ [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 26.5.1881]. Das Zitat stammt aus dem Gedicht „Entsagung“ (1857) des Schweizer Dichters Heinrich Leuthold [vgl. Die Deutsche Gedichtebibliothek, in: https://gedichte.xbib.de/Leuthold_gedicht_009.+Entsagung.htm, 2.8.2021]. sich selbst genug sein, d/D/u
bist ein Weiser. – Ich denke, ich habe mein Wort gehalten. –
Nun aber noch etwas. Ninn/mm/ mir den altklugen Ton,
in dem ich diesen Beweise d/D/ir schreibe nicht übel und wenn Du
etwas einzuwenden hast so werde ich Dir für die baldige Mittheilung sehr
dankbar sein. Beiläufig will ich Din/r/ nur noch mittheilen, dass ich in
14 Tagen hoffentlich in Solothurn bin. Der Antike hat so viel wie eingewilligt. Mam/ein/e Antike wird dies auch
thun. Ich erwarte nur noch Nachricht Von R KunzDer ehemalige Klassenkamerad Richard Kunz, der 1879/80 zu den engsten Freunden Wedekinds gehört haben dürfte, hatte im Juli 1880 die Kantonsschule Aarau verlassen. In seinem tabellarischen Lebenslauf von 1864 bis 1895, der sich am Ende seines zweiten „Münchner Tagebuchs“ (1890) befindet [S. 114-115], wird Richard Kunz 1879 neben wichtigen Ereignissen und Personen aufgeführt: „Gymnasium. Oskar Schibler. Kunz. Egypter. xxX. Hans Rauchenstein“ [Tb 1889 (S. 114)]., den ich um einige Winke gebetennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Richard Kunz, 6.6.1881. habe.
Ebenso trug ich ihm auf nach Aarau
ein ProgrammWedekind dürfte das zuletzt erschienene „Programm der Kantons-Schule von Solothurn für das Schuljahr 1880/81“ (Solothurn 1881) gemeint haben. zu
schicken an O. S. Kantonsschule A. Falls er noch
nicht Zeit gefunden hat, | Dir, lieber Oskar, diesen Gefallen zu erweisen, so
wie auch ich schon seit geraumer Zeit auf Antwort von
ihm harre, so möchte ich Dich erinnern, dass Du dass Programm jedenfalls
auf der Cantonsschulbibliotek finden wirst. – Was Deinen projectirten Wix
anbelangt, so kannst Du mir villeicht mittheilen, wannAm Abend des 30.9.1881 wurde der nächste Maturitätswix genannten Festkommers von den Absolventen der Gewerbeschule ausgerichtet. derselbe stattfinden soll. Wir könnten bei der
Gelegenheit noch herzlich von einander Abschied nehmen. Nun leb wohl.
Zuvor jedoch sende ich Dir noch meinen Klage-GesangDas Gedicht [Erstdruck in KSA 1/I, S. 54] legte Wedekind leicht abgeändert auch einem Brief an Adolph Vögtlin [vgl. Wedekind an Adolph Vögtlin, 5.7.1881] bei. beim Tode Galateas. Es ist Dies
das letzte Product aus meinem Schäferleben:
Es weht durch die Bäume ein kalter Wind,
Die Blätter fallen herab,
Und Galatea, das liebe Kind
Ich trug sie soeben in’s
Grab |
Still deckt’ ich
sie zu, ich weinte nicht,
Sie war ja noch immer so schön.
Ich küsste ihr freundliches Angesicht
Auf baldiges Wiedersehn.
Sei versichert, dass ich auf recht baldige Antwort hoffe et
nunc(lat.) und nun leb wohl und bleib mir, Deinem Freund Franklin Wedekind (Waldkind), gewogen. vale faf/v/eque mihi amico
Franklino Infanti Silvae.
[Im Halboval:]
Felix qui(lat.) Glücklich ist, wer die Welt verachten kann. Liebe Dich selbst, und Du wirst die Welt lieben. poterit mundum contemnere. Se ipsum ama, amabis mundum.
[Kuvert:]
Herrn Oskar Schibler, stud. jurhumoristische Anspielung auf einen möglichen Studienwunsch Oskar Schiblers.
Cantonsschule
Aarau
franco.