F
Lenzburg den 16. Juli. 84.
Lieber Bebi!
Endlich komme ich doch auch einmal dazu Dir zu
schreiben nachdem ich schon ein ganzes VirteljahrSchreibversehen, statt: Vierteljahr. in dem LehrerinnenseminarErika Wedekind besuchte ihrem Brief zufolge das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar (1786 gegründet, 1873 zum kantonalen Lehrerinnenseminar erweitert) in Aarau seit April 1884. Sie ist für das Schuljahr 1884/85 in der I. Klasse verzeichnet: „Frida Wedekind, San Francisco (Kalifornien)“ [Zwölfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 4], im Jahr darauf dann unter den Schülerinnen der II. Klasse (darunter auch Sophie Marti und Lina Renold): „Frieda Wedekind von San Francisco, Kalifornien“ [Dreizehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1885/86, S. 5], dann absolvierte sie noch die III. Klasse [vgl. Vierzehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1886/87, S. 6]. in
ArauSchreibversehen, statt: Aarau. zugebracht habe. Es geht mir dort recht gut aber auch ohne Schwärmerrei
für den Herrn RektorJakob Keller war von 1876 bis 1886 Rektor des Töchterinstituts und Lehrerinnenseminars in Aarau, zugleich dort Lehrer für Deutsch, Pädagogik und Religion [vgl. Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 78]. der mir gar nicht so als ein Wunderthier vorkommt, wie er
mir geschildert wurde. Ich finde sogar daß er im Vergleich mit Herrn HeimgartnerWilhelm Heimgartner war Rektor der Bezirksschule in Lenzburg.
gar nichts ist. Mein Zeugniß lautet recht gut nur in Deutsch (u zwar in den
Aufsätzen, zu denen ich gar keine SimpatieSchreibversehen, statt: Sympathie. habe, nicht) Du hast in | deinem
letzten Briefvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.7.1884. Diesen Brief hat der Vater seiner Tochter zu lesen gegeben, wie er seinem Sohn auch mitteilte [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884]. „Lina Renold“ berührt. Ja es ist
wahr sie ist in unserer Klasse u zwar w lernt auch mit großem Eifer. In
Deutsch ist sie recht gut, auch in Geschichte, Geographie u Naturkunde. In
Französisch Englisch Rechnen etc. ist sie aber recht
schwach u ich weiß nicht ob sie ime Institut fortkommen kann. Denn
die Frl. JäkiWilhelmine Jäggi war Lehrerin für französische und englische Sprache und Literatur am Lehrerinnenseminar [vgl. Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 78]. ist ihr gar nicht hold.
Ich muß aber doch auf die Hauptveranlassung
meines Briefes kommen u. das ist das JugendfestDas seit dem 16. Jahrhundert tradierte Jugendfest in Aarau „wird nach dem Ende des Schuljahres in der Stadt gefeiert. [...] Mit Kanonendonner der Kadetten wird der Festtag eröffnet. Der Festzug bewegt sich zuerst zur Stadtkirche, wo Gottesdienst gehalten wird, anschließend zum Festplatz. Auf der Schanzenmättli speisen zunächst die Honoratioren, auf der Schanze das Volk [...]. Abends beginnt das eigentliche Volksfest. Es wird getanzt bis nach Mitternacht“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 42]. Das aktuelle Jugendfest in Aarau fand am 11.7.1884 (Freitag) statt; sein detailliertes Programm (bei „günstiger“ und „ungünstiger Witterung“) war annonciert, darunter „Tanz auf der Schanze bis 10 Uhr Abends ausschließlich für Schüler und Schülerinnen. – Schluß für die Gemeindeschüler um 8 Uhr, für Bezirks- und Kantonsschüler Punkt 10 Uhr Abends. Später Tanz nur für Erwachsene.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 30, Nr. 161, 9.7.1884, Beilage, S. (2)]. Ich verlebte es recht lustig
zwar der Anfang war nicht erbaulig/ch/. Ich mußte im Regen hinunter an
den Bahnhof u war in steter Angst wegen meinen schönen Loken Locken. Auf
dem Bahnhof war Minna u. half mir einsteigen dann gings fors/t/ u
unter der Begleitung von Frl. Emma Bertschinger. In Arau angekommen gehe ich zu
unserem PedelSchreibversehen, statt: Pedell. | lege Regenmantel u anderweitigen Ballast ab u begebe mich dann
in höchster GallaSchreibversehen, statt: Gala. auf den Graben der als Sammelplatz diente. Es hatte natürlich
schon bei meiner Ankunft aufgehört zu rech/g/nen. Von hier aus begann
der Zug in die Kirche, indem uns die Musik „die alte Tante“Gespielt wurde das Lied „Die alte Tante“ (op. 37) von Moritz Peuschel, ein populärer Marsch mit humoristischem Text, der 1878 bei Eulenburg in Leipzig erschienen war. vorspielte. In der Kirche
wurden 4 Lieder gesungen worunter das eine unter den herzzereissenden Tönen der
Stadtmusik u den Schweißtropfen des Herrn BurgmeierDer Musiker und stimmgewaltige Sänger Josef Burgmeier war Gesangslehrer am Lehrerinnenseminar [vgl. Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 78]. so ziemlich in die Brüche
gieng. Dann hielt Professor FreiDr. Adolf Frey war Lehrer für deutsche Sprache und Literatur sowie für Griechisch am Progymnasium der Kantonsschule in Aarau [vgl. Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 78]. eine lakonische Rede u die Feier war zu Ende.
Der Nachmittag war sehr langweilig. Um 5 Uhr aber begann der Tanz im SalbauSchreibversehen, statt: Saalbau. da da
es wieder anfieng zu regnen. Die Kadetten waren noch nicht da nur 3 kollosalSchreibversehen, statt: kolossal.
große Kantonsschüler. Der Längste unter ihnen macht den ers|ten Tanz mit Fanny
Kuster einem Mädchen der 3. KlasseFanny Custer war für das Schuljahr 1884/85 in der III. Klasse verzeichnet [vgl. Dreizehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 5], für das Schuljahr 1883/84 in der II. Klasse, 1882/83 in der I. Klasse.. Diese schien so klein gegen ihren Kavalier
daß ich dachte, wenn dem Menschen nur nie einfällt mit mir zu tanzen,. ‒ Aber siehe da, schon beim nächsten Tanz
angaschierteSchreibversehen, statt: engagierte. er mich. Ich sah nach der Galerie hinauf wo Mamma (sie war nämlich
um elf gekommen) sich halb krank lachte. Ich hatte nun aber noch keine Ahnung
wie der junge Herr eigentlich hieß. Darauf stellte er sich zu meinem größten
Erstaunen als Hermann Keller Stiefbruder des Oskar Schiebler vor. Du kannst Dir
daß/s/ Paar denken! Er mußte sich zusammen klappen wie ein Taschenmesser
wenn er etwas zu mir sagen wollte u. ich konnte ihn kaum halten. |
Endlich war der Tanz fertig u jetzt waren auch
die Kadetten gekommen von denen zuerst
Hans Walti mit mir tanzte. Um halb acht gieng Mamma fort als ich grade
mit Heinrich Hünw/er/wadel tanzte. Dieser angagirte mich auch zum Zug auf die Schanz, denn
da es mittlerweile sehr schönes Wetter geworden war, hatte man sich
entschlossen aus dem engen Saal auf die Schanz hinaus zu ziehen. Heinrich
führte mich nun hinaus u dort machten wir noch den ersten Tanz zusammen. Später
wurde mir noch Hans FleinerHans Fleiner hat sein Maturitätsexamen nach Progymnasium und Gymnasium an der Kantonsschule in Aarau im Frühjahr 1884 absolviert u Rolf LindtRolf Lindt war Schüler der II. Klasse des Progymnasiums der Kantonsschule. vorgestellt mit denen ich auch tanzte.
Auch mit Andern tanzte ich noch die ich jedoch nicht kannte. Der Abend gefiel
mir auch recht denn es waren mehr Tänzer vorhanden als hier allemal. Ich konnte
recht | viel tanzen u glaube daß deine Vorgängerschaft viel dazu beigetragen
hat. Die Arauermädchen blieben oft sitzen u die Fremden wurden vorges/z/ogen
besonders Hedwig Leuch welche dem Hauptmann Doser recht gut gefiel. Unser Herr
Rektor hat sich den ganzen Tag nicht gezeigt, er hätte ja die Hände über dem Kopf
zusammengeschlagen wenn er gesehen hätte wie jeder alle Stiele einen Besen am Arm durch
unter Musik durch die Stadt zogen. Am letzten Sonntag kam Lisa Jahn nach Hause.
Sie sieht recht blaß aus u ist sehr v n nervös. Sie hat in
München wo sie letzte Woche als Brautjungfer der Hochzeit ihres jüngsten Onkel’s
beiwohnte, einen sehr lieben Vetter Franz gefunden in den sie so ziemlich
verschossen | ist. Ihre MamaWedekinds Korrespondenzpartnerin Bertha Jahn (die ‚erotische Tante‘). kann leider noch nicht recht sprechen u es ist
immer wie wenn sie den Mund voll hätte wenn sie spricht. Hoffentlich wird das
bald vergehen. Sophie Marti geht schon seit geraumer ZeitÜber Sophie Marti in der II. Klasse ist für das Schuljahr 1884/85 dagegen festgehalten: „Ausgetreten im II. Quartal.“ [Zwölfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 5] nicht mehr nach Arau
weil sie die Bleichsucht im höchsten Grade hatte. Jetzt geht es ihr aber schon weder besser. Emma
Kammerer ist jetzt bei uns zum Besuch um sich von einem sehr starken
Lungenhusten zu erholen. Jetzt aber will ich schließen denn ich will noch zum
Baden gehen mit Mati u.
verbleibe indessen mit Gruß u. Kußt
deine Schwester
FriedeFrieda Marianne Erika Wedekind (Mieze) benutzte zunächst ihren ersten Vornamen als Rufnamen.
Wenn du Zeit hast so schreibe mir doch auch
einmal.