Feuilleton.
In beifolgenden Zeilen gestatte ich mir, IhnenWedekind dürfte den Brief mit Beilage an die Münchner Handelsdruckerei & Verlagsanstalt M. Poeßl geschickt haben (siehe unten), da sie den Sonderdruck herstellte (insofern wird sie unter Vorbehalt hier als Adressatin angenommen); dort war unter anderem die Anthologie „Modernes Leben. Ein Sammelbuch der Münchner Modernen“ (1891) verlegt [vgl. Hettche 2011, S. 314], deren Beiträger Wedekind war. eine SceneEs handelt sich um die Szene II/2 von „Frühlings Erwachen“ [vgl. KSA 2, S. 282-285], die in dem Sonderdruck unter der Überschrift „Die Frage“ abgedruckt ist.
aus meinem dreiaktigen Drama: „Frühlings-Erwachen, Eine Kindertragödie“ vorzulegen, mit dem ich
nächstdem in mündlichem Vortrag vor das Publikum zu tretenWedekind kündigte seinem Bruder fast gleichlautend demnächst anstehende Lesungen an [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 24.5.1891]. Nachgewiesen sind mündliche Vorträge aus „Frühlings Erwachen“ allerdings erst seit Januar 1896 [vgl. KSA 2, S. 919]. gedenke. Das Drama
behandelt in einer Anzahl lose aneinander gereihter Scenen, in möglichst
typisirten Formen die überaus interessanten Erscheinungen, wie sie sich bei der
heranreifenden Jugend aus dem Zusammenleben der jungen Leute unter sich, aus
ihrem Verhältniß zu Schule und Eltern ergeben und trotz ihrer weitreichenden
seelischen und sozialen Bedeutung, einzelne Ausnahmen abgerechnet, noch wenig
Beachtung von seiten der schriftstellernden Welt gefunden haben.
Durch einen Abdruck nachstehender ProbeWedekind dürfte den Privatdruck der Szene II/2 aus „Frühlings Erwachen“ (1891) mit dem offenen Brief als „Vorwort“ [KSA 2, S. 771] an eine Redaktion oder mehrere Redaktionen versandt haben oder hatte dies vor. Ein Druck dieser exemplarisch ausgewählten Szene in einer Zeitung oder Zeitschrift ist nicht bekannt. in Ihrem
werthgeschätzten Feuilleton würden Sie dem Verfasser einen Dienst erweisen, für
den er Ihnen im Voraus seinen verbindlichsten Dank zu erstatten sich erlaubt.
Mit der Versicherung vorzüglichster Hochachtung
Fr. Wedekind
Akademiestraße 21/0, München.
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Die FrageUnter dieser Überschrift ist die Szene II/2 aus „Frühlings Erwachen“ abgedruckt, mit ganz geringfügigen Varianten zur Buchausgabe von 1891..
Aus „Frühlings-Erwachen.“
Eine Kindertragödie
von
Fr. Wedekind.
(Wohnzimmer.)
Frau Bergmann: (den Hut auf, die
Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem Gesicht durch die Mittelthür
eintretend) Wendla! ‒ Wendla!
Wendla. (erscheint in
Unterröckchen und Corset in der Seitenthür rechts) Was giebts, Mutter?
Frau Bergmann. Du bist schon auf, Kind?
‒ Sieh, das ist schön von dir!
Wendla. Du warst schon
ausgegangen?
Frau Bergmann. Zieh dich nun nur flink
an! ‒ Du mußt gleich zu Inahinunter. Du mußt ihr
den Korb da bringen!
Wendla. (sich während des
Folgenden vollends ankleidend) Du warst bei Ina? ‒ Wie geht es Ina? ‒ Will’s noch immer nicht bessern?
Frau Bergmann. Denke dir, Wendla, diese
Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen kleinen Jungen gebracht.
Wendla. Einen Jungen? ‒ Einen Jungen! |
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‒ O das ist herrlich! ‒ ‒ Deshalb die langwierige Influenza!
Frau Bergmann. Einen prächtigen Jungen!
Wendla. Den muß ich sehen,
Mutter! ‒ So bin ich nun zum dritten Mal Tante geworden ‒ Tante von einem Mädchen und zwei Jungens!
Frau Bergmann. Und was für Jungens! ‒ So geht’s eben, wenn man so dicht beim Kirchendach wohnt! ‒ Morgen sind’s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem Mullkleid die Stufen
hinanstieg.
Wendla. ‒ Warst du dabei, als er ihn brachte?
Frau Bergmann. Er war eben wieder
fortgeflogen. ‒ Willst du dir denn nicht eine Rose vorstecken?
Wendla. Warum kamst du nicht
etwas früher hin, Mutter?
Frau Bergmann. Ich glaube aber beinahe,
er hat dir auch etwas mitgebracht ‒ eine Brosche oder was.
Wendla. Es ist wirklich schade!
Frau Bergmann. Ich sage dir ja, daß er
dir eine Brosche mitgebracht hat!
Wendla. Ich habe Broschen genug ...
Frau Bergmann. Dann sei auch zufrieden,
Kind. Was willst du denn noch?
Wendla. Ich hätte so furchtbar
gerne gewußt, ob er durchs Fenster oder durch den Schornstein geflogen kam.
Frau Bergmann. Das mußt du Ina fragen. |
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Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz! ‒ Ina sagt dir das ganz
genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde mit ihm gesprochen.
Wendla. Ich werde Ina fragen,
wenn ich hinunterkomme.
Frau Bergmann. Aber ja nicht vergessen,
du süßes Engelsgeschöpf! Es interessirt mich wirklich selbst, zu wissen, ob er
durchs Fenster oder durch den Schornstein kam.
Wendla. Oder soll ich nicht
lieber den Schornsteinfeger fragen? ‒ Der Schornsteinfeger muß
es doch am besten wissen, ob er durch den Schornstein fliegt oder nicht.
Frau Bergmann. Nicht den
Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was weiß der
Schornsteinfeger vom Storch! ‒ Der schwatzt dir allerhand dummes Zeug vor, an das
er selbst nicht glaubt .... Wa ‒ was glotzst du so auf die Straße hinunter??
Wendla. Ein Mann, Mutter ‒ dreimal so groß wie ein Ochse! ‒ mit Füßen wie
Dampfschiffe...!
Frau Bergmann. (an’s Fenster stürzend)
Nicht möglich! ‒ Nicht möglich! ‒
Wendla. (zugleich) Eine Bettlade
hält er unterm Kinn, fiedelt die Wacht am Rhein drauf ‒ ‒ eben biegt er um die Ecke ....
Frau Bergmann. Du bist und bleibst doch
ein Kindskopf! ‒ Deine alte einfältige Mutter so |
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in Schrecken jagen! ‒ Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder, wann bei
dir einmal der Verstand kommt. ‒ Ich habe die Hoffnung aufgegeben.
Wendla. Ich auch, Mütterchen,
ich auch. ‒ Um meinen Verstand ist es ein traurig Ding. ‒ Hab’ ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem halben Jahre
verheirathet, und ich selber bin zum dritten Male Tante geworden, und habe gar
keinen Begriff, wie das alles zugeht .... Nicht böse werden, Mütterchen; nicht
böse werden! Wen in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte, liebe
Mutter, sag es mir! Sag’s mir, geliebtes Mütterchen! Ich schäme mich vor mir
selber. Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas
frage. Gieb mir Antwort ‒ wie geht es zu? ‒ wie kommt das alles? ‒ Du kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn
Jahren noch an den Storch glaube.
Frau Bergmann. Aber du großer Gott,
Kind, wie bist du sonderbar! ‒ Was du für Einfälle hast! ‒ Das kann ich ja doch wahrhaftig nicht!
Wendla. Warum denn nicht,
Mutter! Warum denn nicht! ‒ Es kann ja doch nichts häßliches sein, wenn sich alles
darüber freut!
Frau Bergmann. O ‒ o Gott behüte mich! ‒ Ich verdiente ja .... Geh, zieh dich an, Mädchen;
zieh dich an! |
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Wendla. Ich gehe, ... Und wenn dein Kind nun hingeht und
fragt den Schornsteinfeger?
Frau Bergmann. Aber das ist ja zum
Närrischwerden! ‒ Komm Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir alles
.... O du grundgütige Allmacht! ‒ nur heute nicht, Wendla! ‒ Morgen, übermorgen, kommende Woche ... wann du nur immer willst, liebes
Herz ...
Wendla. Sag es mir heute,
Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! ‒ Nun ich dich so entsetzt
gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden.
Frau Bergmann. ‒ Ich kann nicht, Wendla.
Wendla. O warum kannst du nicht,
Mütterchen! ‒ Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen
Kopf in den Schos. Du deckst mir deine Schürze über den Kopf und erzählst und
erzählst, als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich
will nicht schreien; ich will geduldig ausharren, was immer kommen mag.
Frau Bergmann. ‒ Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel
kennt mich! ‒ Komm denn in Gottes Namen! ‒ Ich will dir erzählen, Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen. ‒ So hör mich an, Wendla ...
Wendla. (unter ihrer Schürze) Ich
höre.
Frau Bergmann. (ekstatisch) ‒ Aber es geht |
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ja nicht, Kind! ‒ Ich kann es ja nicht verantworten. ‒ Ich verdiene ja, daß man mich in’s Gefängniß setzt ‒ daß man dich von mir nimmt ...
Wendla. (unter ihrer Schürze)
Faß’ dir ein Herz, Mutter!
Frau Bergmann. So höre denn ...!
Wendla. (unter ihrer Schürze,
zitternd) O Gott; o Gott!
Frau Bergmann. Um ein Kind zu bekommen ‒ du verstehst mich, Wendla?
Wendla. Rasch, Mutter ‒ ich halt’s nicht mehr aus.
Frau Bergmann. ‒ Um ein Kind zu bekommen ‒ muß man den Mann ‒ mit dem man verheiratet
ist .... lieben ‒ liebensag ich
dir ‒ wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr
von ganzem Herzenlieben, wie ‒ wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben,
Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst.... Jetzt weißt du’s.
Wendla. (sich erhebend) Großer ‒ Gott ‒ im Himmel!
Frau Bergmann. Jetzt weißt du, welche
Prüfungen dir bevorstehen!
Wendla. ‒ Und das ist alles?
Frau Bergmann. So wahr mir Gott helfe! ‒ ‒ Nimm nun den Korb da und geh zu Ina hinunter. Du
bekommst dort Chokolade und Kuchen dazu. ‒ Komm, laß dich noch
einmal betrachten ‒ die Schnürstiefel, die seidenen Handschuhe, die |
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Matrosentaille, die Rosen im Haar ..... dein Röckchen wird dir aber wahrhaftig
nachgerade zu kurz, Wendla!
Wendla. Hast du für Mittag schon
Fleisch gebracht, Mütterchen?
Frau Bergmann. Der liebe Gott behüte
dich und segne dich! ‒ Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants
unten ansetzen.
Druck der Münchner Handelsdruckerei, & Verlagsanstalt M.
Poeßl Goethestr. 3Inhaberin der Münchner Handelsdruckerei & Verlagsanstalt M. Poeßl mit Sitz in der Goethestraße 3 war Maria Pößl (geb. Schmeger), die Gattin des Redakteurs Max Poeßl (de facto Mitinhaber), der mit ihr unter derselben Adresse wie die Firma gemeldet war [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1891, Teil II, S. 130]. „‚Münchner Handelsdruckerei M. Pößl‘. Unter dieser Firma betreibt seit 20. Juni l. J. Frau Maria Pößl dahier, Göthestr. 3, ein Buchdruckereigeschäft. Dieselbe hat ihrem Ehemanne Max Pößl Prokura ertheilt.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 43, Nr. 425, 17.9.1890, Morgenblatt, S. 4].