München, Fürstenstr. 19IKurt Martens, der im Vorjahr von Leipzig (Haydnstraße 1) [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil I, S. 558] nach München umgezogen war, ist unter dieser Adresse (Fürstenstraße 19, 1. Stock) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1899, Teil II, S. 171] nicht verzeichnet und dürfte in Untermiete gewohnt haben.
den 5. Febr. 1899.
Mein lieber Wedekind,
nachdem ich gestern Ihre AdresseWedekind wohnte nun in Paris (Rue Bonaparte 49) [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 24.2.1899], wohin er von Zürich am 22.12.1898 gereist war [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899], im französischen Exil, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung infolge der „Simplicissimus“-Affäre zu entgehen [vgl. KSA 1/II, S. 1704-1712]. von von Richard erfahren habe, kann ich es mir nicht versagen, Ihnen eine seltsame Komplikation meines Lebens, meine VerlobungKurt Martens hatte sich mit Mary Fischer verlobt, der Tochter des pensionierten Münchner Oberlandesgerichtsrats Georg Fischer; angezeigt war: „Verlobte. [...] Kurt Martens, Schriftsteller aus Sachsen, mit M. Fischer, k. Oberlandesgerichtsrathstocher von hier.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 87, 22.2.1899, Vorabendblatt, S. 4] Das Paar heiratete am 29.3.1899 in München. nämlich, mitzuteilen. Die Mangelhaftigkeit der hiesigen Wohnungs- und Restaurant-Verhältnisse einerseits, mein Bedürfnis, verehrt, geliebt und verwöhnt zu werden andrerseits wiesen gebieterisch auf ein junges, stilles und | schüchternes Mädchen hin, die, wie wenige ihres Geschlechtes, berufen sein dürfte, meinen Erwartungen zu genügen. Sie heißt Mary, ist die Tochter eines weil. Oberlandesgerichtsrates, ein paar Jahre jünger als ich und ziemlich hübsch. Da ich solch liebe, unterwürfige Geschöpfe stets sehr gern gehabt habe, so bin ich ich auch im stande, ihre rührende Zuneigung zu erwidern. Ende März werden wir heiraten und eine zierliche Wohnung, Franz Josephstr. 48IIKurt Martens war unter dieser Adresse (Franz Josefstraße 48, 2. Stock) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1900, Teil I, S. 361] dann verzeichnet. beziehen. Ich bin sehr glücklich in der Hoffnung, wie beruhigend und kräftigend diese Ehe auf mich und meine Arbeiten einwirken wird. –
Im übrigen genieße ich maßvoll das Münchner Leben, insbesondere den Fasching, die Premieren und jours fixes. Mme Morawetz ist noch immer jung. Ihre Tochter Mizi könnte mich als Geliebte wahnsinnig machen und als Ehefrau unter die Erde bringen Frau von OehlschlägerMarie von Oehlschläger (geb. Mellenthin), Gattin des Reichsgerichtspräsidenten und Mutter des Schriftstellers und Malers Hans von Oehlschläger, den Wedekind grüßen ließ [vgl. Wedekind an Kurt Martens, 9.11.1899]. spielt eine Rolle in der guten Gesellschaft, und auch Weber heiratet demnächstHans von Weber, der Cousin von Kurt Martens, war mit Anna Jäger verlobt; angezeigt war: „Verlobte. [...] Hans von Weber, Schriftsteller aus Sachsen, mit Anna Jäger, Lohgerberstochter von Leipzig.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 129, 18.3.1899, Vorabendblatt, S. 4] Das Paar heiratete am 29.3.1899 in München – am selben Tag wie Kurt Martens und Mary Fischer (siehe oben). sein Verhältnis. Jeden Montag tagt „die UnterströmungMax Halbes zwanglose Münchner Kegelrunde [vgl. Kemp 2017, S. 29], 1898 gegründet. „Der Geselligkeit diente Max Halbes zur Kegelbahn gewordene ‚Unterströmung‘“ [Kutscher 2, S. 74], eine Kegelgemeinschaft, die ihm zufolge einen „Stamm tüchtiger Kegler“ hatte, „deren Namen [...] auf dem literarischen Felde [...] einen guten, vielfach sogar einen weithin hallenden Klang hatten.“ [Halbe 1935, S. 379]“: Halbe, Steiger, einige Maler, Weber und ich, auch Wolzogen und Conrad, die, während der Hofkapellmeister Stavenhagen auf einem verstimmten Klavier ungarische Tänze spielt, zusammen cancanierenvon ‚cancaner‘ (frz.) = den Cancan tanzen; auch: klatschen, tratschen.. Halbes „Lebenswende“ erlebte gestern im Schauspielhaus einen bösen DurchfallDie Presse schrieb über die Premiere von Max Halbes Komödie „Lebenswende“ (1896) am 4.2.1899 im Münchner Schauspielhaus: „Das war ein böser Abend [...]. In der Lebenswende verläuft alles im Sande. Bewundert haben wir nur das Publikum; das war ein Achtungsdurchfall von vornehm höflicher Entschiedenheit, man klatschte nach dem ersten Akt, dem zweiten folgte Todtenstille, nach dem dritten mischte sich Beifall und Zischen und den letzten begleitete unterdrücktes Gelächter, beschloß fast einmütiges Zischen. Wir dürfen das Stück wohl als bekannt voraussetzen, es verdient diese Aufnahme, jede Beschönigung wäre zwecklos.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 102, Nr. 37, 6.2.1899, S. 2] „Das Premièrenpublikum des Schauspielhauses ist ein ungerechter, ein inkonsequenter und ein grausamer Richter. Man hat dort schon Stücke, die an künstlerischen Qualitäten sich mit der ‚Lebenswende‘ nicht im Entferntesten messen können, mit lautem Beifall aufgenommen, – diese selbst hat man am Samstag verhöhnt und verlacht.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 60, 7.2.1899, Vorabendblatt, S. 1]; dagegen ist sein | neustes Stück „Die Heimatlosen“
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er las es uns vorgestern vor – von starker Wirkung; soll in 14 Tagen am LessingtheaterMax Halbes Drama „Die Heimatlosen“ (1899) wurde am 21.2.1899 im Berliner Lessingtheater uraufgeführt. Die Münchner Presse konstatierte: „Halbes Schauspiel ‚Die Heimatlosen‘ hatte im Lessing-Theater einen starken äußern Erfolg.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 88, 22.2.1899, Morgenblatt, S. 3] kommen. –
Wie ich höre, sollen Sie in Paris fleißig sein. Erzählen Sie mir, bitte, ein bischen, was Sie treiben und schreiben. Wird Ihr undankbares Vaterland Sie niemals wiedersehen? Oder wollen Sie die zwanzigjährige Verjährungsfristbezieht sich auf die Anklage wegen Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre (siehe oben). abwarten? –
La vie est dure(frz.) Das Leben ist hart., mein lieber Wedekind. Wenn wir unsre beiden Persönlichkeiten doch verschmelzen oder konkret ausgedrückt – wenn wir doch ein Stück zusammen schreiben könnten! – Das müßte ein Erfolg werden.
Die schönsten Grüße von
Ihrem Antipoden
Kurt Martens.