65 KÖNIGSALLEE
GRUNEWALD
Mein lieber und sehr verehrter Herr Wedekind,
doppelt bin ich Ihnen dankbarHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung (oder eine Widmung im Buch); erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Walther Rathenau, 30.9.1912. Bei dem Buch handelte sich um die Erstausgabe von „Schloß Wetterstein. Schauspiel in drei Akten“ (1912) im Georg Müller Verlag [vgl. KSA 7/II, S. 692]., für Ihre neues Werk
und für Ihren gütigen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Walther Rathenau, 1. bis 2.11.1912.. Noch immer liegt Ihr MysteriumWalther Rathenau besaß die Erstausgabe von „Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten“ (1912), vordatiert im Georg Müller Verlag erschienen [vgl. KSA 7/II, S. 994], ein Widmungsexemplar [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 27.11.1911]. auf meinem Tisch;
zweimal habe ich es gelesen, und ich wage kaum, „Schloss Wetterstein“ zu
beginnen, bevor ich nicht versucht habe, „Franziska“ mir noch lebhafter zu eigen
zu machen. Die Schönheiten und Tiefen dieses Dramas haben mich bewegt und sein
reiches Schmuckwerk – ich denke unter vielem Anderen an das fulminante TanzliedWalther Rathenau meint entweder das von Veit Kunz im 1. Akt (2. Bild) gesungene und von Karaminka getanzte Lied mit dem „Donnerwetter“-Refrain [vgl. KSA 7/I, S. 248f.] – das „Donnerwetterlied“ ist in der Erstausgabe von „Franziska“ (siehe oben) „in einer Fassung abgedruckt, die zum Erstdruck des Gedichts ‚Auf eigenen Füßen. Ein Tanzgedicht‘ [...] nur geringfügig variant ist“ [KSA 7/II, S. 994; vgl. KSA 1/I, S. 585f.] – oder das von den Mädchen im 4. Akt (8. Bild) im Veitstanz gesungene Lied [vgl. KSA 7/I, S. 293f.].
– hat mich bezaubert. Ergreifend | sind Geständnisse, die aus Ihrem Herzen
kommen. Aber habe ich schon das Recht zu urtheilen? Sicherlich das,
Ihnen aufs herzlichste zu danken.
Ihre geistvolle AnregungWedekinds Vorschlag eines „Almanach der 300“ [Wedekind an Walther Rathenau, 1. bis 2.11.1912]. hat mich aufs lebhafteste
interessirt. Aber lassen Sie mich vertraulich Ihnen sagen: mein Ausspruch„Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents und suchen sich Nachfolger aus ihrer Umgebung.“ [Walther Rathenau: Zur Kritik der Zeit. Berlin 1912, S. 207] Wedekind bezog sich in seinem nicht überlieferten Brief [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 1. bis 2.11.1912] auf diesen Satz Walther Rathenaus, der aus dem 1912 nachgedruckten Essay „Geschäftlicher Nachwuchs“ (1909) stammt. war
eine Art von Indiskretion. Die wirklichen „300“ haben die Gewohnheit und
Vorsicht, ihre Macht zu abzuleugnen. Wenn Sie sie aufrufen, so werden sie Ihnen
sagen: wir wissen | von nichts; wir sind Kaufleute wie alle anderen.
Dagegen werden nicht 300 sondern 3000 Commerzienräthe sich melden, die Strümpfe
oder Kunstbutter wirken, und sagen, wir sind es. Die Macht liegt in
der Anonymität; ich kenne unter den Bekannteren – nicht unter den Bedeutendsten
– Einen, den überhaupt niemand zu sehen bekommt, ausser seinem Barbier. Ich
kenne e/E/inen, der fast arm ist und die gewaltigsten Unternehmungen
beherrscht. Ich kenne Einen, der vielleicht der Reichste ist, und dessen
Vermögen seinen Kindern gehört, die er hasst. | Mehrere sind
unzurechnungsfähig. Einer arbeitet für das Vermögen der Jesuiten, ein Anderer
ist Agent der Curie. Einer, als Beauftragter einer ausländischen
Vereinigung, ist mit einem Besitz von 280 Millionen Consols(engl.) Consolidated Annuities. Bezeichnung für englische Staatsanleihen im 18. Jahrhundert, hier im übertragenen Sinne für Staatsschuldscheine. der grösste
Gläubiger der/s/ preussischen Staates.
Alles dies vertraulich. Aber Sie sehen: diesen Menschen ist
auf gewöhnlichen Wegen nicht leicht beizukommen. Und den ungewöhnlichen
Weg des persönlichen Apells lehnen sie ab.
Aufrichtig erfreut bin ich über die EhrungAnspielung auf die durch offene Briefe publik gewordene Einladung Wedekinds an die Universität Dublin, ausgesprochen von der studentischen University Philosophical Society am Trinity College der University of Dublin [vgl. Herbert Martyn Oliver White an Frank Wedekind, 25.9.1912], und seine Absage [vgl. Wedekind an Herbert Martyn Oliver White, 28.10.1912]. Walther Rathenau bezog sich auf Wedekinds Absage, die er soeben in der Berliner Presse gelesen haben dürfte [vgl. Wedekind und die englische Literatur. In: Berliner Börsen-Courier, Jg. 45, Nr. 519, 4.11.1912, Abend-Ausgabe, S. 8]., die Dublin Ihnen
und sich selbst | erwiesen hat. Ich bedaure, dass Sie nicht
hingehen. Ich hätte erwartet, dass die Reise Sie mit Shaw in VerbindungWedekind hatte zwar den Schriftsteller Charles Dickens erwähnt [vgl. Wedekind an Herbert Martyn Oliver White, 28.10.1912] und in der Einladung nach Dublin (siehe oben) war von dem Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton die Rede [vgl. Herbert Martyn Oliver White an Wedekind, 25.9.1912], der irische Dramatiker George Bernard Shaw, der seit 1876 in London lebte, war in beiden offenen Briefen aber nicht genannt.
gebracht hätte; ich kenne ihn nicht, aber ich meine, Sie würden ihm und er
Ihnen etwas zu sagen haben.
Weit mehr bedaure ich, dass Sie mich nicht mehr besuchenWedekind hat Walther Rathenau zuletzt am 17.11.1911 in München zufällig gesehen: „Ratenau begegnet“ [Tb]; das nächste Treffen fand erst wieder am 31.8.1913 statt, als Wedekind in Berlin war: „Rathenau holt mich ½ 10 Uhr ab nach Freienwalde wo wir den ganzen Tag bleiben.“ [Tb]. Bin
ich schuld? Bewusst sicher nicht.
Mit herzlichen Grüssen für Sie und Ihre Gemahlin in
Ergebenheit der Ihre
W Rathenau.
4.11.12.