W. R.
Sehr geehrter Herr Wedekind,
Sie haben mir eine grosse Freude gemacht. Dass
Sie dies Buch gelesenWalther Rathenaus „Impressionen“ (1902) [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 6.10.1904]. haben, ist weit mehr als ich hoffte; ich danke Ihnen
herzlich.
Güte macht unbescheidenanspielungsreiches Zitat einer Formulierung aus Christian Gottfried Körners Brief an Goethe vom 17.12.1796: „Wie begierig muss man nun auf das grössere Gedicht werden, und wie sehr müssen Sie verzeihen, wenn Ihre Güte uns unbescheiden macht.“ [Goethe-Jahrbuch 4 (1883), S. 300]. Hier sind zwei Aufsätzenicht eindeutig ermittelt; in Frage kommen die unter dem Pseudonym Renatus veröffentlichten Aufsätze „Zur Physiologie der Moral“ [in: Die Zukunft, Jg. 11, Nr. 49, 5.9.1903, S. 383-396] und „Die Schaubühne als industrielle Anstalt“ [in: Die Zukunft, Jg. 11, Nr. 51, 19.9.1903, S. 471-473] sowie der unter dem Pseudonym Ernst Rainer gedruckte Aufsatz „Ein Traktat vom bösen Gewissen“ [in: Die Zukunft, Jg. 12, Nr. 12, 19.12.1903, S. 449-453]., die meiner
heutigen Denkweise näher stehen, als die Sachen aus den neunziger Jahrendie in den „Impressionen“ (siehe oben) versammelten, in den Jahren 1897 bis 1901 erstveröffentlichten Prosatexte und Essays.. Ich
schicke sie nicht um Ihre Feder zu bemühen, so sehr auch Ihre guten und
allzunachsichtigen Worte mich erfreut haben. Aber es macht | mich sehr
stolz, zu denken, dass ein Geist, den ich seit Jahren bewundre und mit keinem
Deutschen Zeitgenossen mehr vergleiche, Zeit findet, ein paar
Curven meiner Deductionen zu durchlaufen.
Es war für mich ein glückliches Ereigniss, dass ich Sie
begrüssen durfteWedekind war am 22.9.1904 in Berlin in Begleitung von Maximilian Harden abends zu Gast bei Walther Rathenau gewesen [vgl. Tb] – das persönliche Kennenlernen., und es würde mich schmerzen, wenn es nur ein Ereigniss
bliebe. Deshalb halte ich Sie an Ihrem Versprechen, mich wieder aufzusuchen, |
fest, und warne Sie, dass ich selbst zw/u/weilen, wenn auch nur unstet,
nach München komme.
In aufrichtiger Ergebenheit
W Rathenau.
– 11.10.04 –
Berlin, 3. Victoriastr.