FRANK WEDEKIND.
MÜNCHEN, den 28.
April 1901
Franz Josefstr.
42/II.
Lieber Herr HardekopfFerdinand Hardekopf dürfte nach wie vor in Charlottenburg gewohnt haben [vgl. Ferdinand Hardekopf an Wedekind, 17.12.1899].!
ich danke Ihnen sehr für Ihre freundlichen liebenswürdigen
Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Ferdinand Hardekopf an Wedekind, 27.4.1901., aus denen mir ein ganzer Mensch und Herz und Kopf entgegenspricht.
Schicken Sie mir doch bitte gelegentlich Ihre Gedichtenicht ermittelt; es dürfte sich entweder um unveröffentlichte oder um bisher gedruckt noch nicht nachgewiesene Gedichte Ferdinand Hardekopfs gehandelt haben, die er Wedekind zu schicken angeboten hat.. Sie werden mich
jedenfalls mehr interessieren als was Sie über mich schreiben. Aber es gab eine
Zeit wo ich auch über andere Menschen geschrieben habe. Deshalb halten Sie es
nicht für Selbstbespiegelung wenn ich Ihnen die betreffenden DatenWedekind hat vier Tage zuvor teilweise ähnlich lautende biografische Mitteilungen auch anderweitig versandt [vgl. Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901]. gebe:
Geboren 24.VII.1864 in Hannover.
Mein Vater, aus einer alten Ostfriesischen Beamtenfamilie
war ein vielgereister MannFriedrich Wilhelm Wedekind, Arzt für Chirurgie und Geburtshilfe, war von 1843 bis 1845 als Bergwerksarzt in der Türkei, danach war er bis 1847 in Palermo, Neapel, Rom und Paris und wanderte schließlich 1849 nach Amerika aus (San Francisco), wo er bis 1864 lebte [vgl. KSA 5/III, S. 77].. Er war Arzt und war als solcher zehn Jahre lang im
Dienste des Sultans in der Türkei gereist. 1847 kam er nach Deutschland zurück
und | saß 1848 als Condeputierter (Ersatzmann) im Frankfurter ParlamentFriedrich Wilhelm Wedekind war 1848/49 „akkreditierter Korrespondent“ [KSA 5/III, S. 77] der Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main. Er „berichtete regelmäßig ab dem 22.8.1848 über die Parlamentsdebatten“ [Vinçon 2021, Bd. 1, S. 392] und reiste Anfang 1849 von Frankfurt ab, als er „die konterrevolutionäre Strategie der restaurativen Mächte registrierte“ [Vinçon 2021, Bd. 1, S. 394]. Er blieb, wie er nachträglich notierte, „in Frankfurt, so lang, als noch irgend eine Hoffnung auf Erfolg vorhanden war“ [Vinçon 2021, Bd. 1, S. 394].. 1849
gieng er nach San-Franzisco und lebte dort 15 JahreFriedrich Wilhelm Wedekind kam am 5.9.1849 in San Francisco an [vgl. Vinçon 2021, Bd. 1, S. 396] und lebte dort, unterbrochen von einer Reise nach Europa im Jahr 1855, bis zum Umzug nach Oakland im Herbst 1862 [vgl. Parker 2020, S. 222f.], um am 1.4.1864 von San Francisco aus mit seiner Frau Emilie Wedekind (geb. Kammerer) und dem Sohn Armin Wedekind die endgültige Rückreise nach Europa anzutreten [vgl. Vinçon 2021, Bd. 1, S. 378].. Mit 46 Jahren heiratete er
eine junge SchauspielerinWedekinds Mutter schrieb in ihren Jugenderinnerungen über das Deutsche Theater in San Francisco: „Beinahe jeden Sonntag spielte ich im deutschen Theater.“ [Becker 2003, S. 107] vom Deutschen Theater in San-FranziscoFrank Wedekinds Eltern, Emilie Friederike Schwegerle (geb. Kammerer), Sängerin und Schauspielerin (Ankunft in San Francisco am 31.12.1858), und Friedrich Wilhelm Wedekind, haben sich in San Francisco kennengelernt; seine Mutter schilderte das in ihren für ihre Kinder geschriebenen Jugenderinnerungen [vgl. Becker 2003], sein Vater hielt es in einem Tagebuch fest [vgl. Parker 2020]. Nach der Scheidung von Emilie Friederike Schwegerle (rechtskräftig am 3.1.1863 geschieden) heiratete das Paar am 28.3.1863 in Oakland/USA [vgl. Parker 2020, S. 227]., die genau
halb so alt war wie er selber. Diese Thatsache scheint mir nicht ohne
Bedeutung. Der Vater meiner Mutter war ein SelftmademanSchreibversehen, statt: Selfmademan (engl.) = jemand, der aus eigener Kraft im Leben zu etwas gekommen ist.. Er hatte als
Ungarischer MausefallenhändlerJakob Friedrich Kammerer stammte nicht aus Ungarn, sondern aus der württembergischen Stadt Ludwigsburg. Er stellte als Fabrikant auch „Mäusefallen“ [KSA 5/III, S. 78] her und verkaufte sie. angefangen und gründete Ende der zwanziger Jahre
eine chemische Fabrik in Ludwigsburg bei Stuttgart. 1830Nach der französischen Julirevolution von 1830 vertrat Jakob Friedrich Kammerer republikanische Ideen; er wurde „verschwörerischer Kontakte und revolutionärer Umtriebe verdächtigt“, am 1.7.1833 auf die Festung Hohenasperg in Untersuchungshaft genommen, aus dieser „seines schlechten Gesundheitszustandes“ wegen am 31.10.1831 entlassen, „zu einer zweijährigen Festungsstrafe verurteilt“ und entzog sich der „Festungshaft [...] im Frühjahr 1838 durch Flucht über Straßburg nach Riesbach bei Zürich.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 22f.] organisierte er im
Verein mit Ludwig PfauDer Schriftsteller, Journalist und Revolutionär Ludwig Pfau floh nach der gescheiterten Revolution von 1848 im Jahr 1849 in die Schweiz. In Zürich war er unter den in Jakob Friedrich Kammerers „Haus verkehrenden zahlreichen Gästen“, wie Wedekind Mutter festhielt: „Nur einige Namen sind mir noch erinnerlich wie: Pfau [...]. Besonders an den rothen Pfau erinnere ich mich noch sehr lebhaft“ [Becker 2003, S. 27]. Eine politische Konspiration 1830 zwischen Jakob Friedrich Kammerer und Ludwig Pfau ist „Erfindung Wedekinds“ [KSA 5/III, S. 78]. eine politische Verschwörung und beide wurden auf der
Festung Asberg eingesperrt. Dort erfand mein Großvater wie Sie aus dem
betreffenden Artikel im ConversationslexikonWedekind bezieht sich auf den Artikel über Jakob Friedrich Kammerer im Nachtragsband der zuletzt erschienenen Auflage von „Meyers Konversations-Lexikon“; dort heißt es: „Kammerer, Jakob Friedrich, der angebliche Erfinder der Phosphorstreichzündhölzer, [...] führte seit 1815 das väterliche Siebmachergeschäft weiter, trat nach 1820 auch als Trommel- und Seidenhutfabrikant auf und verkaufte nebenher Döbereinersche Zündmaschinen und Tunkfeuerzeuge. Etwa seit 1830 fabrizierte er Congrevesche Reibzündhölzer mit einem Kopf aus Schwefelantimon und chlorsaurem Kali. [...] 1832 oder 1833 soll nun K. der Lokalsage nach die Verwendung des Phosphors statt des Schwefelantimons als erster in die Zündholzindustrie eingeführt haben, was sich zur Zeit aber nicht erweisen läßt. Er schloß sich der damaligen Freiheitsbewegung und ihrer Geheimbündelei an, beteiligte sich an der Koseritzschen Militärverschwörung und wurde 1838 zu zweijähriger Festungshaft verurteilt, der er sich aber durch die Flucht entzog. Er war dann Zündholzfabrikant in Seefeld bei Zürich, verlebte aber seine letzten Tage in Ludwigsburg. Vgl. Schanzenbach, K. und die Phosphorzündhölzer (Ludwigsb. 1896).“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 5. Aufl. Bd. 18. Ergänzungen und Nachträge. Leipzig, Wien 1898, S. 521] ersehen können, die PhosphorstreichhölzerEntgegen der „Legende, Kammerer sei der Erfinder der Zündhölzer gewesen, [...] entwickelte er als Fabrikant von chemisch hergestellten Produkten nur die gegenüber Schwefelstreichhölzern funktionstüchtigeren Phosphor-Reibzündhölzer. Mit ihrer betrieblichen Herstellung begann er 1832 in Ludwigsburg“; er setzte die „Produktion von Zündhölzern“ 1839 im Exil in Zürich fort und „gründete damit die erste manufakturartig betriebene Zündholzfabrik der Schweiz.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 32f] Seine Tochter hat in ihren Jugenderinnerungen geschrieben, ihr Vater habe während seiner Haft auf der Festung Hohenasperg die „Entdekung“ der „ersten Phosphorschwefel Streichhölzer“ gemacht, „seine wichtige Erfindung“, und die „neu erfundenen Zündhölzer“ [Becker 2003, S. 11f.] dann in seiner Fabrik in Zürich produziert..
Nach seiner Freilassung errichtete er eine chemische Fabrik in Zürich und starb
1857 im IrrenhausJakob Friedrich Kammerer kehrte krank geworden 1854 nach Deutschland zurück und starb am 23.10.1857 in der von Dr. Friedrich Krauß „geleiteten Privatirrenanstalt in Ludwigsburg“ [Vinçon 2021, Bd. 1, S. 401] mit 61 Jahren „in geistiger Umnachtung“ [Becker 2003, S. 137]. in Ludwigsburg | in vollkommener Geistesumnachtung. Er hieß
Heinrich Kammerer. Vor zehn Jahren errichtete ihm die Bürgerschaft von
Ludwigsburg ein Denkmal. Er war in hohem Grade MusikalischSchreibversehen, statt: musikalisch. begabt. Was meine
Schwester Erika und meine Wenigkeit an musikalischer BegabungErika Wedekind war eine gefeierte Opernsängerin, Frank Wedekind sang zur Gitarre seine Chansons. besitzen, stammt
entschieden von ihm. – 1864 kehrte mein Vater nach Deutschland zurück, lebte 8
JahreFriedrich Wilhelm Wedekind, seine Ehefrau Emilie und ihr Sohn Armin trafen aus Amerika am 15.5.1864 in Hannover ein [vgl. Vinçon 2021, Bd. 1, S. 378], wo am 24.7.1864 ihr zweites Kind – Benjamin Franklin (Frank) – geboren wurde; die Familie wohnte bis zur Übersiedelung in die Schweiz 1872 in Hannover. in Hannover und kaufte 1872 das Schloß LenzburgFriedrich Wilhelm Wedekind kaufte das Schloss Lenzburg ‒ „Kaufpreis 90.000 Francs“ [vgl. Vinçon 2021, Bd. 1, S. 428] ‒ am 1.9.1872, bereits am 20.9.1872 zog er mit seiner Familie dorthin um [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 264]. im Canton Aargau in der
Schweiz, einen der schönsten Flecken Erde, die ich je gesehen. Dort wuchs ich
auf als zweitältester von 6 GeschwisternFrank Wedekinds älterer Bruder Arnim wurde am 29.1.1863 in Oakland/USA geboren, in Hannover seine jüngeren Geschwister William Lincoln am 16.5.1866, Erika (Mieze) am 13.11.1868, Donald am 4.11.1871, in Lenzburg Emilie (Mati) am 7.4.1876., deren drittjüngstes meine Schwester
Erika ist. Ich besuchte in Lenzburg die Bezirksschule und darauf das kantonale
Gymnasium in Aarau. 1883 machte ich mein AbituriumAbitur, Wedekinds Matura in Aarau; die mündlichen Prüfungen fanden am 8. und 9.4.1884 statt, am 10.4.1884 gab es die „‚Maturitätszensur‘ (Bekanntgabe der Ergebnisse der Matura)“ [KSA 5/III, S. 79].. Ich beschäftigte mich dann
mehrere Jahre journalistisch als MitarbeiterWedekind schrieb mehrere Feuilletonartikel für die „Neue Zürcher Zeitung“, die 1887/88 erschienen [vgl. KSA 5/III, S. 79]. der „Neuen Zürcher Zeitung“ und
anderer Schweizer Blätter. 187/8/6 wurde in Kemptthal bei Zürich,
das indes weltberühmt gewordene Etablissement MaggiWedekind war von November 1886 bis April 1887 fest angestellt als Vorsteher des Reklame- und Pressebüros der Firma Maggi & Co. in Kemptthal bei Zürich tätig, anschließend bis Juli 1887 als freier Mitarbeiter [vgl. KSA 5/III, S. 79]. | eines Reklame- und
Preßbüreaux. In dieser Zeit verkehrte ich hauptsächlich mit Gerhar Karl Henckell,
dem ich die Schätzung aller modernen Bestrebungen verdanke. Außerdem gehörten
Gerhart Hauptmann und Mackay zu unserem KreisWedekind schloss sich in Zürich „1887 dem literarischen Kreis um Karl Henckell und Carl Hauptmann an, zu dem im Januar 1888 auch Gerhart Hauptmann stieß.“ [KSA 5/III, S. 80] John Henry Mackay verkehrte ebenfalls in diesem Kreis.. Dann verkehrte in Zürich auch so
ziemlich alles was sich in der jungen Literatur hervorthat oder hervorthun
wollte. Zürich war damals ein hervorragendes geistiges Centrum, eine Bedeutung,
die es seit Aufhebung des Socialisten-GesetzesDas im Deutschen Kaiserreich am 22.10.1878 in Kraft getretene und am 30.9.1890 wieder aufgehobene Sozialistengesetz (‚Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie‘) war ein mehrfach verlängertes Ausnahmegesetz zur Verhinderung politisch oppositioneller Aktivitäten. vollkommen verloren hat. 1888
reiste ich ein halbes Jahr lang als Sekretär mit dem Circus HerzogDer Wanderzirkus Herzog gastierte vom 6.7.1888 bis 8.10.1888 in Zürich [vgl. KSA 5/III, S. 80] (Wedekind veröffentlichte seinen davon inspirierten Essay „Im Zirkus“ am 2. und 5.8.1888 in der „Neuen Zürcher Zeitung“). „Legende ist allerdings, Wedekind sei als Sekretär des Zirkus Herzog gereist“ [KSA 5/III, S. 81]. und ging nach
dessen Auflösung mit meinem Freunde, dem bekannten Feuermaler Rudinoff nach
ParisWedekind lernte den Maler und Varietékünstler Willy Rudinoff (d.i. Wilhelm Morgenstern) 1890 in München kennen (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Willy Rudinoff) und begegnete ihm 1892 in Paris wieder, „als Rudinoff am Cirque d’Hiver engagiert war“ [KSA 5/III, S. 81]. Die von Wedekind genannten Reisen mit Willy Rudinoff sind erfunden. und begleitete ihn auf als sein Mitarbeiter auf einer Tournee
durch England und Südfrankreich. 1890 kehrte ich mit Rudinoff nach München
zurück und schrieb dort mein erstes BuchWedekinds erstes Buch war die Posse „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon“ (1889), sein zweites das Lustspiel „Kinder und Narren“ (1891), sein drittes die Tragödie „Frühlings Erwachen“ (im Herbst 1891 erschienen) [vgl. KSA 5/III, S. 81]. „Frühlings Erwachen“. Dann | ging ich,
da mein Vater in dessen gestorben war nach Paris zurück und wurde dort
schließlich Sekretär eines auch in Berlin bekannten großen dähnischenSchreibversehen, statt: dänischen. Malers
und Bilderhändlers namens Willy gGrétor Grétor, in dessen DienstWedekinds Erzählung, er habe in Paris und London für den dänischen Maler, Kunsthändler und Kunstfälscher Willy Gretor (siehe Wedekinds Korrespondenz mit ihm) gearbeitet, „ist reine Legende“ [KSA 5/III, S. 81]. ich
auch ein halbes Jahr lang in London thätig war. Wärend meines dortigen Londoner Aufenthaltes machte ich
durch Dautendey zum ersten Mal die Bekanntschaft
der neuen deutschen symbolistischen Literatur, die damals eben im Aufblühen
war. Den Winter 95 auf 96 verbrachte ich wieder in der Schweiz und zwar unter
dem Namen des Recitators Cornelius
Mine-HahaWedekind war im Herbst 1895 auf Vortragsreise [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz, 7.10.1895 und 24.10.1895], bei der er als Ibsen-Rezitator aufgetreten sein dürfte und jedenfalls die Rezitation von Henrik Ibsens „Gespenstern“ anbot [vgl. Wedekind an Hans Bodmer, 24.10.1895]; seiner Mutter hat er über einen Vortrag in Zürich berichtet [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.10.1895], über den auch die Presse berichtet hat: „Henrik Ibsens ‚Gespenster‘ wurden auf der kleinen Bühne des Festsaales der Eintracht am Neumarkt von dem bekannten Rezitator Cornelius Minehaha in sehr bedeutsamer Weise interpretiert.“ [Tages Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich, Nr. 259, 4.11.1895, 2. Beilage, S. (1)]. Als solcher
recitierte ich in Zürich und anderen schweizer Städten Scenen aus Ibsenschen
Dramen. Meine Hauptnummer war die vollkommen freie Recitation der „Gespenster“
mit ausführlicher Marg/k/ierung jedes einzelnen Bühnenbildes, indem ich
durch mein Spiel in jeder Scene haupsächlichSchreibversehen, statt: hauptsächlich. die jeweilige Hauptperson darzustell
darstellte. In diese Zeit fällt auch der PlanWedekind hatte 1895 erwogen, mit Otto Julius Bierbaum ein reisendes literarisches Varieté zu gründen, wie Ferdinand Hardekopf wusste [vgl. Ferdinand Hardekopf: Das litterarische Variété. In: Freisinnige Zeitung, Nr. 294, 16.12.1900, 2. Beiblatt]. einer Gründung eines reisenden
literarischen | Tingel-Tangels, den ich wie ich Ihnen schon schriebnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Ferdinand Hardekopf, 1.12.1900., damals mit
Bierbaum erörterte. Ich bitte und einigen jungen Damen erörterte. Ich
ersuche Sie, bei dieser Gelegenheit aber nicht wieder auf Bierbaums „Stilpe“Im Roman „Stilpe“ (1897) ist die Idee, ein Kabarett zu gründen, im Rekurs auf Friedrich Nietzsches Begriff ‚Übermensch‘ literarisch ausgeführt: „Ein literarisches Tingeltangel! Wirklich! So was fehlt! [...] Die Renaissance aller Künste und des ganzen Lebens vom Tingeltangel her! [...] Wir werden eine neue Cultur herbeitanzen! Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären!“ [Otto Julius Bierbaum: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin 1897, S. 354, 357, 359] Die dortige Beschreibung „soll angeblich auf Wedekinds enthusiastischen Schilderungen der Pariser Cabaret-Szene beruht haben“ [KSA 5/III, S. 83]. In einem am 7.5.1899 in der „Eisenacher Tagespost“ publizierten Feuilleton Ferdinand Hardekopfs, das er Wedekind geschickt hat [vgl. Ferdinand Hardekopf an Wedekind, 17.12.1899], heißt es: „Das köstliche Buch von Bierbaum, ‚Stilpe‘, erzählt, wie fünf befreundete Schriftsteller, in denen man leicht Paul Scheerbart, Franz Evers, Stanislaw Przybyszewski, Frank Wedekind und Stilpe-Bierbaum erkennt, sich zu einer gemeinsamen litterarischen Unternehmung vereinigen. [...] man solle statt einer Wochenschrift, doch lieber ein Tingeltangel gründen. Man ist gleich davon entzückt: ‚Ein litterarisches Tingeltangel! Wirklich! So was fehlt! Wo gute Sachen gesungen werden. [...] Sachen von Dichtern. [...] was Schönes!‘“ [Echte 2015, S. 16f.]
zurückzukommen, wenigstens nicht zu dessen Ungunsten. Bierbaum ist ein
sehr guter und lieber Freund von mir, dem ich an Propaganze‚propagance‘ (frz.) = Propaganda. seit Jahren
unendlich viel zu danken habe. Begreiflicher Weise sieht er die Originalität
seines „Stilpe“ öffentlich nicht gern in Frage gestellt, um so mehr da er
selber mich auf den Zusammenhang aufmerksam gemacht hat. Schließlich hat ja
auch das Buch noch hundert andere Seiten. Bierbaum würde sich jedenfalls sehr
freuen, wenn Sie seinen Stilpe irgendwo einmal eingehender würdigen wollten.
Ich meinerseits bin auch gerne bereit, Sie als Lyriker mit der „Insel“In der Monatsschrift „Die Insel“ ‒ herausgegeben von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder, erschienen im Verlag der Insel bei Schuster & Löffler in Berlin ‒ begann gerade die Publikation von Wedekinds Romanfragment „Mine-Haha“ (siehe unten); im Vorjahr ist dort „Marquis von Keith“ (unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet von Frank Wedekind“) erschienen [vgl. KSA 4, S. 425]. in
Beziehung zu bringen, wenn Ihnen an der Zeitschrift etwas liegt. Verzeihen Sie
diese rein praktische Erörterung. Ich war immer ein Feind von gegenseitiger
Verhimmelung und habe mich auf das literarische Geschäft nie besonders
verstanden. | Ich glaube aber aus Ihren Zeilen herauszulesen, daß Sie
literarische Beziehungen zu gewinnen suchen, sonst würde ich das was ich Ihnen
hier geschrieben für eine große Taktlosigkeit halten.
Was ich Ihnen noch weiter über mich zu berichten habe,
wissen Sie wahrscheinlich ebensogut wie ich. Im Frühjahr 96 reiste ich zur Gründung
des „Simplicissimus“Albert Langen bereitete die Gründung der von ihm dann in München verlegten und herausgegebenen illustrierte Wochenschrift „Simplicissimus“ im Herbst 1895 vor [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz, 24.10.1895]; das erste Heft wurde mit Wedekinds Erzählung „Die Fürstin Russalka“ eröffnet (auf dem Titelblatt die dazugehörige Zeichnung gleichen Titels) [vgl. Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 1, 4.4.1896, S. 1-3]. nach München, dessen politischer Mitarbeiter ich während
zwei Jahren blieb. Im Herbst 97 gründete Dr. Carl
Heine sein Ibsen-TheaterWedekind war seit Ende 1897 oder Anfang 1898 Mitglied des kurz zuvor von Dr. phil. Carl Heine gegründetem Ibsen-Theaters in Leipzig, eine der Moderne verpflichtete Theatergruppe, die Gastspiele an verschiedenen Bühnen gab; eigentlich das Theater der Literarischen Gesellschaft (Direktion: Carl Heine) in Leipzig, bei dem Wedekind als Dramaturg und unter dem Pseudonym Heinrich Kammerer als Schauspieler engagiert war [vgl. Neuer Theater Almanach 1899, S. 408]. in Leipzig und engagierte mich als Sekretär, Schauspieler
und Regisseur. Als Schauspieler führte ich bei ihm den Namen meines GroßvatersWedekinds Großvater mütterlicherseits hieß Jakob Friedrich Kammerer (siehe oben). Wedekind trat als Schauspieler im Ensemble von Carl Heines Ibsen-Theater unter dem Pseudonym Heinrich Kammerer auf (siehe oben).
Heinrich Kammerer. Wir bereisten ganz Norddeutschlandnachweislich Lübeck, Lüneburg, Hannover, Hamburg. und kehrten über Breslau
und Wien im Hochsommer 98Carl Heine kehrte mit seinem Ensemble nach dem Gastspiel des Ibsen-Theaters vom 2.6.1898 bis 12.6.1898 im Carl-Theater in Wien nach Leipzig zurück, wo die nächste Vorstellung durch das Ibsen-Theater am 16.6.1898 stattfand (Henrik Ibsens „Nora“ im Kristallpalast). nach Leipzig zurück. In Leipzig, Halle, Hamburg
Braunschweig und Breslau hatten wir auch den Erdgeist aufgeführtNach der Uraufführung des „Erdgeist“ am 25.2.1898 in Leipzig (siehe unten) gab Carl Heines Ibsen-Theater „Erdgeist“-Gastspiele am 11.3.1898 im Thalia-Theater in Halle, am 15.4.1898 im Carl-Schultze-Theater in Hamburg, am 26.5.1898 im Lobe-Theater in Breslau; das „Erdgeist“-Gastspiel in Braunschweig ist noch nicht nachgewiesen (zu Carl Heine und den Gastspieltourneen seines Ibsen-Theaters besteht noch Forschungsbedarf)., in Leipzig erlebte
das | Stück zehn WiederholungenNach der Uraufführung des „Erdgeist“ mit Wedekind in der Rolle des Dr. Schön am 25.2.1898 [vgl. KSA 3/II, S. 1216-1218] ‒ angekündigt: „Litterarische Gesellschaft in Leipzig. V. Theater-Abend. Freitag, den 25. Februar, im Theatersaale des Krystall-Palastes. Der Erdgeist. Eine Burleske von Frank Wedekind. Regie: Dr. Carl Heine. Anfang pünktlich 8 Uhr“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 100, 25.2.1898, Morgen-Ausgabe, S. 1457] ‒ gab es, als Gastspiele des Ibsen-Theaters (Direktion: Carl Heine) ausgewiesen, im Leipziger Kristallpalast weitere Vorstellungen am 3.3.1898, 24.6.1898, 27.6.1898 und 29.6.1898; während der Tournee des Ibsen-Theaters fanden zehn „Erdgeist“-Vorstellungen statt: „Auf dieser Tournée gelangten zur Aufführung: [...] Wedekind’s Erdgeist 10 Mal.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 355, 16.7.1898, Morgen-Ausgabe, S. 5398].. Da sich das Ensemble damals auflöste, ging ich
nach München und wurde Dramaturg und Schauspieler und Regisseur am
hiesigen SchauspielhausWedekind hatte am 26.7.1898 mit Georg Stollberg, Direktor des Münchner Schauspielhauses, eine Vereinbarung für sein Engagement zunächst als Schauspieler am Münchner Schauspielhaus getroffen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898] und wurde von ihm am 22.8.1898 „als Dramaturg und Schauspieler unter Vertrag genommen“ [Vinçon 1987, S. 53], aber auch als Sekretär [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443] (die Spielzeit begann am 7.9.1898). Georg Stollberg habe „als Dramaturgen den Schriftsteller Frank Wedekind gewonnen“ [Münchener Schauspielhaus. In Allgemeine Zeitung, Jg. 101, Nr. 243, 3.9.1898, Morgenblatt, S. 6], meldete die Münchner Presse. Wedekind trat dann als Schauspieler am 10.9.1898, 11.9.1898 und 23.9.1898 in Gerhart Hauptmanns Komödie „Der Biberpelz“ in der Rolle des Dr. Fleischer sowie am 24.9.1898, 25.9.1898 und 30.9.1898 in „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas in der Rolle des Doktors auf.. Dann kam der SimplicissimusprozeßDas Leipziger Landgericht hatte am 24.10.1898 wegen der Veröffentlichung von Wedekinds unter Pseudonym veröffentlichtem Gedicht „Im heiligen Land“ im „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 31] angeordnet, das betreffende Heft zu konfiszieren, und sah den Straftatbestand der Majestätsbeleidigung nach § 95 des Reichstrafgesetzbuches als erfüllt an (auch für den Zeichner des Titelblatts Thomas Theodor Heine und für den Verleger Albert Langen); Wedekind entzog sich der Verhaftung durch Flucht nach Zürich und von dort nach Paris, stellte sich am 2.6.1899 in Leipzig der Polizei, wurde am 3.6.1899 in Untersuchungshaft genommen, am 3.8.1899 zu einer siebenmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, die in Festungshaft umgewandelt wurde, die Wedekind vom 21.9.1899 bis 3.2.1900 auf der Festung Königsstein verbüßte [vgl. KSA 1/II, S. 1710]., dessen sofortiger
Erledigung ich nur deshalb auswich um f ein halbes Jahr Zeit und Ruhe zu
einem Bühnenstück zu gewinnen. Ich stellte mich dem Richter sobald ich das
letzte WortWedekind, der noch während seiner Haft auf der Festung Königstein Ende 1899 am „Marquis von Keith“ geschrieben hat, beendete das Stück erst im Frühjahr 1900 [vgl. KSA 4, S. 413]. am Marquis von Keith geschrieben hatte. Seit me Auf der
Festung Königstein schrieb ich den RomanWedekind hat „Mine-Haha“ anderen retrospektiven Hinweisen von ihm zufolge 1889, 1890 oder 1895 geplant, wobei er mit der Abfassung 1895 begonnen und den Roman womöglich erst 1903 abgeschlossen hat [vgl. KSA 5/I, S. 1054]. Mine-Haha, der gegenwärtig in der
Insel erscheintIn der Monatsschrift „Die Insel“ (siehe oben) erschien gerade Wedekinds Romanfragment „Mine-Haha“ [vgl. Frank Wedekind: Mine-Haha. In: Die Insel, Jg. 2, Nr. 7, April 1901, S. 27-36; Nr. 8, Mai 1901, S. 93-111; Nr. 9, Juni 1901, S. 234-255].. Seit meiner FreilassungWedekind wurde am 3.2.1900 aus seiner Haft auf der Festung Königsstein entlassen.Wedekind wurde am 3.2.1900 aus seiner Haft auf der Festung Königsstein entlassen. bin ich nur wenig mehr als
Schauspieler aufgetreten, zwei MalWedekind spielte bei einem „Gastspiel des Dr. HEINE-Ensemble“ am Großen Schauspielhaus (Groote Shouwburg) in Rotterdam in seinem Einakter „Der Kammersänger“ (1899) am 6.10.1900 [vgl. Rotterdamsche Nieuwsblad, Jg. 23, Nr. 6919, 6.10.1900, 1. Blatt, S. (4)] erstmals die Hauptrolle des Gerardo; das war wohl die Abschiedsvorstellung des Gastspiels von Carl Heines Ensemble [vgl. Rotterdamsche Nieuwsblad, Jg. 23, Nr. 6921, 9.10.1900, 2. Blatt, S. (2)]. Wann oder ob überhaupt ein zweiter Auftritt Wedekinds stattfand, ist unklar. am Stadttheater in RotterdammSchreibversehen, statt: Rotterdam. und 5 MalWedekind spielte in fünf der acht Vorstellungen seines Einakters „Der Kammersänger“ am Münchner Schauspielhaus die Hauptrolle [vgl. KSA 5/III, S. 85], zuerst bei der Premiere am 16.2.1901, angekündigt: „Gerardo – Herr Frank Wedekind als Gast.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 78, 16.2.1901, Vorabendblatt, S. 5] Das gefiel: „Der gestrige Einakter-Abend verlief sehr angeregt. [...] Mit dem ‚Kammersänger‘ von Frank Wedekind wurden wir schon im letzten Sommer durch das Gastspiel des Heine-Ensembles bekannt gemacht. Die Attraktion der zweiten ‚Erstausführung‘ war das Auftreten des Verfassers in der Titelrolle.“ [Rth. (Willy Rath): Münchner Schauspielhaus. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 82, 18.2.1901, S. 4] Wedekind ist dann noch am 20.2.1901, 21.2.1901, 25.2.1901 und 27.2.1901 als Gerardo aufgetreten. Dann meldete die Presse: „Kommenden Freitag wird an Stelle des Herrn Frank Wedekind Herr Hans Schwartze den Kammersänger in Wedekinds gleichnamigem Einakter spielen.“ [Münchener Schauspielhaus. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 104. Nr. 59, 28.2.1901, Morgenblatt, S. 6] am
hiesigen Schauspielhaus und zwar als „Kammersänger“. Augenblicklich singe ich
hier allabendlich meine Gedichte nach eigenen Compositionen bei den „Elf
Scharfrichtern“Das Münchner Kabarett Die Elf Scharfrichter, das seine Bühne im Hinterhaus des Wirtshauses Zum goldenen Hirschen (Türkenstraße 28) hatte, wurde offiziell am 13.4.1901 eröffnet, wie angekündigt war: „Wir machen nochmals darauf aufmerksam, daß die Eröffnungsvorstellung der elf Scharfrichter Samstag, 13. April, Abends 8 Uhr, als Galaexekution [...] stattfindet.“ [Die elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 166, 10.4.1901, Vorabendblatt, S. 2] Die eigentliche Eröffnungsvorstellung fand allerdings bereits am 12.4.1901 als ‚Ehrenexekution‘ statt: „Mit der Ehrenexekution des gestrigen Abends hat das sogenannte ‚Ueberbrettl‘ auch in München seinen Einzug gehalten.“ [Die elf Scharfrichter. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 104, Nr. 102, 13.4.1901, Abendblatt, S. 1] Wedekind, der erst am 13.4.1901 von einer Italienreise zurück in München war und abends die offizielle Eröffnungsvorstellung des Kabaretts besuchte [vgl. Wedekind an Bertha Doepler, 14.4.1901], trat dann allabendlich mit Erfolg bei den Elf Scharfrichtern auf: „Wedekind ‒ er gab uns einige echte Wedekinds. Seine ‚Brigitte B.‘ und die ‚Sieben Rappen‘ sind in der Form so vollendet gehalten, daß man es hinnehmen kann, daß der Inhalt ‚jenseits von Dezent und Indezent‘ liegt. Dabei verfügt Herr Wedekind über eine bewunderungswürdige Ruhe im Vortrage, eine Ruhe, die selbst ängstlichen und prüden Gemüthern über etwaige Gewissensbisse leicht hinweghilft.“ [Die Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 195, 26.4.1901, Morgenblatt, S. 3] Der „Andrang zu den Exekutionen“ war „so groß“, dass am 26.4.1901 „eine außerordentliche Exekution“ [Die elf Scharfrichter. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 104. Nr. 111, 22.4.1901, Mittagblatt, S. 3] angesetzt wurde. zur Guitarre. – Erlauben Sie mir den Bericht hier abzubrechen.
Richten Sie bitte der verehrten schwarzen Freundinnicht identifiziert., von der Sie mir schreiben,
meine ergebenste Empfehlung aus und seien Sie selber herzlichst gegrüßt von
Ihrem
Frank Wedekind.