Sehr geehrter Herr
Kraus!
empfangenim Erstdruck: Empfangen. Sie meinen herzlichenim Erstdruck: herzlichsten. Dank erstens für Übersendung des HonorarsHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Kraus an Wedekind, 27.11.1904. ‒ „Das Lied vom armen Kind“, am 26.10.1904 in der „Fackel“ veröffentlicht, ist vermutlich nachhonoriert worden; 100 Mark hatte Wedekind dafür allerdings bereits vorab erhalten [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 11.10.1904]., zweitens für Ihre liebenswürdige EinladungKarl Kraus dürfte Wedekind in dem nicht überlieferten Schreiben (siehe unten) nach Wien eingeladen haben, wo er die Tragödie „Die Büchse der Pandora“ aufzuführen plante, die dort am 29.5.1905 Premiere hatte. Wedekind, der sich zuvor am 27. und 28.3.1905 in München mit Karl Kraus traf [vgl. Tb], logierte vom 27. bis 30.5.1905 in Wien [vgl. Tb] in dessen „Wohnung“ [Kraus 1920, S. 114]. nach Wien, drittens für Ihre freundlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Kraus an Wedekind, 28.11.1904..
Ihren Artikel über die Ballerinender unbetitelte Artikel in der „Fackel“ zu „Presseberichten über die geplante Besteuerung von aus Prostitution stammenden Nebeneinnahmen von Wiener Balletttänzerinnen“ [Nottscheid 2008, S. 132], der dann in dem Sammelband „Sittlichkeit und Criminalität“ (1908) von Karl Kraus unter dem Titel „Die Ballettsteuer“ nachgedruckt wurde. In diesem Artikel heißt es: „Aber der Tribut, den schöne Frauen zur Erhaltung ihrer ästhetischen Werte empfangen, wird er nicht hierzulande von Sitte und Gesetz immer noch als ‚Schandlohn‘ betrachtet? Wir können dem Fiskus dankbar dafür sein, daß er die Heuchelei der Staatsmoral entlarvte, welche den Zins von jener Prostitution einhebt, die sie ins dunkle Reich sozialer Verachtung weist. Zwischen Staat und Prostitution besteht sozusagen neben dem strafrechtlichen auch ein zivilrechtliches Verhältnis. Aber es ist nicht nur unmoralisch, sondern auch nach dem herrschenden Gesetz selbst wieder strafbar; denn der Staat, der den Liebesgewinst besteuert, zieht aus einem ‚unerlaubten Verständnis‘ materiellen Vorteil und macht sich somit der Übertretung der Kuppelei schuldig.“ [Die Fackel, Jg. 6, Nr. 169, 23.11.1904, S. 1-6, hier S. 3] finde ich vom ersten bis zum letzten Wort entzückend, noch entzückender, wenn ich ihn nicht als Satire sondern | vollkommen ernst nehme. Warum soll die Prostitution nicht dadurch geadelt werden, daß sie Steuern bezahlt wie jeder andere bürgerliche Beruf. Auf diese Seite der Maßregel haben Sie mit allem Nachdruck hingewiesen und das ist das Herrliche daran. Darauf läßt sich weiterbauen. Die SparbüchseZitat aus dem genannten Artikel (siehe oben), in dem Karl Kraus auf den Titel von Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ anspielte: „Wenn die Schauspielerin die Potenzierung der weiblichen Möglichkeiten von Anmut und Leidenschaft darstellt, so wird der Tänzerin zumeist die Entwicklung zu hausfrauenhafter Wohlanständigkeit organisch sein. Wedekind’s Lulu, der genialsten Entfaltung amoralischer Pracht, glaube ich alles, bloß das Tanzen nicht. Die Sparbüchse der Pandora...“ [Die Fackel, Jg. 6, Nr. 169, 23.11.1904, S. 4] finde ich ausgezeichnet.
Die Karte aus Kairoanonyme Postkarte an Karl Kraus in Wien mit „Postausgangsstempel vom 11.11.1904“ [Nottscheid 2008, S. 133], die „Wedekind des Plagiats beschuldigte.“ [KSA 1/III, S. 540] Ihr Wortlaut, den Karl Kraus in einer Anmerkung zum Erstdruck referierte [vgl. Kraus 1920, S. 106]: „‚Das Lied vom armen Kind‘ist componiert von ‚Knepp Lori‘ = Dr. Nathan Sulzberger.‘ (Stockyard, Chikago, U.S.A) erschienen 1899 Breitkopf & Härtel. Selbstverlag. Text auch von ‚Knepp Lori‘. Letzterer ist ein Freund von Wedekind aus München, wo er studirt hat. / ‚Einer aus München‘.“ [Wienbibliothek im Rathaus, Karl-Kraus-Archiv, H.I.N. 139703/4] Wedekind hat diese Postkarte von Karl Kraus erhalten – „Kraus schickte die Karte zur Kenntnisnahme an Wedekind, der anhand von Schriftvergleichen entschlüsseln konnte, daß die Karte Arthur Holitscher zum Urheber hatte“ [KSA 1/III, S. 540] – und sie ihm mit dem vorliegenden Brief vermutlich zurückschickte [vgl. Nottscheid 2008, S. 131]; explizit als Beilage ist sie aber nicht bezeichnet. ist von Arthur Holitscherim Erstdruck: ... (drei Auslassungspunkte). – Wedekind war mit dem Schriftsteller und Journalisten Arthur Holitscher „seit 1895 eng befreundet“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 63], Korrespondenz ist seit 1903 überliefert (siehe die Korrespondez Wedekinds mit Arthur Holitscher)., wie Sie aus beigelegter SchriftprobeDie Beilage, ein Brief Arthur Holitschers (siehe unten), ist nicht überliefert. ersehen. Aber Holitscherim Erstdruck: ... (drei Auslassungspunkte). ist schwer nerven|leidend und offenbar sehr verbittert. Da er die Fackel gelesen hat mußim Erstdruck: hat, muß. er wissen daßim Erstdruck: wissen, daß. mein Gedicht mit dem von Kneb Lorileicht variierte Schreibweise des Pseudonyms von Dr. Nathan Sulzberger (Knepp Lori) aus New York, mit dem Wedekind der Postkarte aus Kairo zufolge (siehe oben) befreundet war, bekannt als Freund Rainer Maria Rilkes sowie Arthur Holitschers. Er war bis zum Wintersemester 1900/01 an der Universität München als Chemiestudent eingeschrieben [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1900/1901. München 1900, S. 116], wo er promovierte und zurück in die USA ging, Europa aber immer wieder besuchte. Wedekind traf sich dem Tagebuch zufolge mit ihm in Berlin am 3.10.1905 („Abends mit Sulzberger“), 11.11.1905 („Ich konsultiere Dr. Sulzberger und diniere mit ihm bei Kempinski. [...] Nachher mit [...] Sulzberger [...] bei Habel dann Stallmann“), am 25.11.1905 („Diniere mit Meßthaler Schaumberger und Sulzberger“) sowie gemeinsam mit Karl Kraus und Arthur Holitscher am 22.6.1906 („mit Kraus Hollitscher und Sulzberger zu Treppchen“). nichts gemein hat als die ersten zwei Zeilen: „Es war einmal ein armes Kind, das war auf beiden Augen blind.“ Das weiß hier in München jedermann, ebenso daß ich das Gedicht nur der hübschen MelodieWedekind lag als Quelle für die Noten seines Liedes „Das Lied vom armen Kind“ die Komposition des gleichnamigen Liedes von Nathan Sulzberger (siehe oben) vor, das er „von e-moll (Sulzberger-Vorlage) nach a-moll transponierte“ [KSA 1/III, S. 530]. Diese Komposition Nathan Sulzbergers wurde „mit eigenem Text unter dem Pseudonym Knepp Lori“ unter „dem Titel ‚Das Lied vom armen Kind‘ [...] bei Breitkopf & Härtel, Leipzig 1899, für Gesang und Klavierbegleitung veröffentlicht.“ [KSA 1/III, S. 539] Sie ist überliefert. „Der Druck der Sulzbergerschen Komposition findet sich [...] im Nachlaß Wedekinds“ [KSA 1/III, S. 338]. wegen gemacht habe, deren Autorschaft ich nie für mich in Anspruch genommen habe, die sich aber mit dem Sulzbergerschen | TextDer Text von Nathan Sulzbergers Lied war mit Noten publiziert und ist in Wedekinds Nachlass erhalten (siehe oben). unmöglich vortragen läßt. Nun ist aber Holitscherim Erstdruck: ... (drei Auslassungspunkte). Sulzbergers (Knep Loris) bester Freund, ein steinreicher Mann und in seinem Beruf Chemiker. Alsoim Erstdruck: Aber. nicht etwa Literat oder Componistim Erstdruck: Komponist., den ich durch Absingen der Melodie in seinen Berufseinnahmen schädigte. Mit Holitscherim Erstdruck: ... (drei Auslassungspunkte). habe ich nie den geringsten Streit gehabt, im Gegentheilim Erstdruck: Gegenteil. hat er sich mir sehr oft als der anhänglichste Freund gezeigt. Aber seine Verbitterung über Enttäuschungen hat ihm offenbar stark zugesetzt. Ich würde Sie daher aufrichtig bitten, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
In einigen Tagen hoffe ich Ihnen zwei Gedichteteilweise unklar; bei dem einen der Gedichte dürfte es sich um das Gedicht „Confession“ handeln, das Wedekind etwa drei Wochen später für einen Abdruck in der „Fackel“ anbot [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 24.12.1904]. schicken zu können.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
29.XI.04.
Eben lese ich Holitschersim Erstdruck: ...’s. Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Arthur Holitscher an Wedekind, 11.11.1903. noch einmal durch. Er ist so herzlich gehalten daß ich Sie ersuche, ihn mir gelegentlich wieder zurückzuschicken und meine Bitte wiederhole, keine Folgerungen aus der Sache zu ziehen.