GRAND HÔTEL
DE ROME u. DU NORD
A. MÜHLING
Kgl. Hoflieferant
BERLIN
Fernsprecher: Amt I, No. 4438.
Telegr.-Adr.: Romehôtel.
Berlin N.W.,
den 190
Unter den Linden 39.
Sehr verehrter Herr BahrHermann Bahr war am 8.1.1906 von München kommend soeben in Berlin eingetroffen (und blieb bis zum 10.1.1906 – abends Abreise nach Wien) [vgl. Tb Bahr, Bd. 5, S. 1].!
ich kamNachdem Wedekind am 8.1.1906 in Berlin seinen Rechtsanwalt Paul Jonas (siehe unten) wegen des anstehenden zweiten Prozesses um „Die Büchse der Pandora“ (angesetzt auf den 10.1.1906) [vgl. KSA 3/II, S. 1166] aufgesucht hat, war er bei Hermann Bahr, den er dann nochmals im Café Metropol traf: „Besuch bei Jonas, bei Hermann Bahr, treffe Herman Bahr im C. Monopol.“ [Tb] um Ihre Hülfe zu erflehen. Übermorgen Mittwochder 10.1.1906, an dem die Gerichtsverhandlung in dritter und letzter Instanz im Prozess um Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ vor der zweiten Strafkammer am Königlichen Landgericht II in Berlin wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ [KSA 3/II, S. 1167], wie die Anklage lautete, stattfand. Sie endete mit dem Freispruch Wedekinds und seines Verlegers Bruno Cassirer und zugleich mit der gerichtlichen Anordnung „der Unbrauchbarmachung der Druckschrift und der zu deren Herstellung bestimmten Formen und Platten“ [KSA 3/II, S. 1180], wie es im Urteil heißt. Wedekind notierte am 10.1.1906: „Verhandlung Landgericht II Büchse der Pandora. Hermann Bahr und Professor Wittkowski Sachverständige. Freispruch aber Vernichtung des Buches.“ [Tb] habe
ich Verhandlung wegen Büchse d. Pandora. Herr Justizrat Jonal/s/Justizrat Paul Jonas in Berlin (Schaperstraße 32), Rechtsanwalt beim Landgericht I in Berlin und Notar (Kanzlei: Taubenstraße 16-18) [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil I, S. 966]. und
ich wären Ihnen herzlich dankbar | wenn Sie als SachverständigerHermann Bahr notierte am 10.1.1906: „Sachverständiger im Proceß Wedekind beim Landgericht II“ [Tb Bahr, Bd. 5, S. 1]. In seinem 1909 veröffentlichten Tagebuch ist ein Eintrag vom 10.1.1906 ausführlicher mit einem Referat seines Gutachtens überliefert: „Sachverständiger im Prozeß gegen Wedekind, wegen der ‚Büchse der Pandora‘; Landgericht II. Mein Gutachten geht dahin, den ‚normalen Leser‘, auf den sich das Reichsgericht beruft, abzuweisen, weil das Buch selbst durch sein exklusiv künstlerisches Wesen jeden ausschließe, der nicht einen Grad von Kultur hat, bei welchem ein anderes als das rein künstlerische Verhältnis ausgeschlossen ist. Den ‚normalen‘, den unkünstlerischen Leser wird gleich anfangs Wedekinds ungemeine Technik, von Dialogen, welche Monologe scheinen, indem jeder nur vor sich hin, für sich hin spricht, aber dann doch geheimnisvoll ins Gespräch des Partners verbunden wird, so verwirren und so befremden, daß er sich einfach langweilt. Wer aber fähig ist, diesen künstlerischen Reiz zu verstehen und empfinden, ist eben dadurch unfähig, ‚obszön‘ zu reagieren, sei es nun mit Lust oder Ekel. Durch seine ‚Qualität‘ schafft sich also dieses Buch sein eigenes Publikum selbst, an diesem muß es gemessen werden, auf dieses kann es nicht ‚unzüchtig‘ wirken. Das andere Publikum aber, auf das es etwa ‚unzüchtig‘ wirken könnte, schließt es eben durch diese ‚Qualität‘ aus.“ [KSA 3/II, S. 1166f.] uns zur Seite stehen
wollten. Ich werde mir erlauben heute oder morgenWedekind notierte am 9.1.1906 nach einer Vorstellung des „Marquis von Keith“ am Kleinen Theater eine Begegnung in größerer Runde im Weinlokal F. W. Borchardt: „Marquis von Keith [...]. Nachher bei Borchart [...] Hermann Bahr“ [Tb], die dieser ebenfalls festhielt: „‚Marquis von Keith‘ Bei Borchert mit Wedekind“ [Tb Bahr, Bd. 5, S. 1]. noch einmal per Telephon bei
Ihnen anzufragen.
Mit ergebensten Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
8.1.6.