RedaktionHermann Bahr war seit dem 1.10.1899 als Literatur- und Theaterkritiker in der Redaktion des „Neuen Wiener Tagblatt“ tätig und sollte wöchentlich ein Feuilleton abliefern [vgl. Hermann Bahr. Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden: https://www.univie.ac.at/bahr/leben]; er wohnte in Wien (XIII, Veitlissengasse 5a) und ist als Redakteur des „Neuen Wiener Tagblatt“ (Redaktion: Wien I, Steyrerhof 3) [vgl. Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Wien 1902, Teil VII, S. 33] ausgewiesen.
des Neuen Wiener Tagblatt
WIEN,
I., ROTHENTHURMSTRASSE, STEYRERHOF
Telegramm-Adresse: Tagblatt. Steyrerhof. Wien. ‒ Telephon Nr. 384. Staats-Telephon
Nr. 36
20.9.der 20.9.1901.
Sehr geehrter Herr!
Ich danke Ihnen sehr für Ihr Schreibenvgl. Wedekind an Hermann Bahr, 17.9.1901.. Ich hätte
gern auch über den „Marquis von Keith“, geschriebenHermann Bahr bezieht sich auf seinen Aufsatz über Wedekind [vgl. Hermann Bahr: Frank Wedekind. In: Neues Wiener Tagblatt, Jg. 35, Nr. 249, 11.9.1901, S. 1-2], für den der Autor sich bei ihm bedankt hat [vgl. Wedekind an Hermann Bahr, 17.9.1901]., der beim Lesen,
schon in der „Insel“der Vorabdruck des „Marquis von Keith“ [vgl. KSA 4, S. 413, 425] in der von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walther Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen und von Thomas Theodor Heine illustrierten Monatsschrift „Die Insel“ [vgl. Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet von Frank Wedekind. In: Die Insel, Jg. 1, Nr. 7, April 1900, S. 3-76; Nr. 8, Mai 1900, S. 166-198; Nr. 9, Juni 1900, S. 255-310]., noch mehr im Buchin der auf 1901 vordatierten Erstausgabe „Marquis von Keith. (Münchener Scenen). Schauspiel in fünf Aufzügen“ [vgl. KSA 4, S. 425], die fast genau ein Jahr zuvor im Albert Langen Verlag in München erschienen ist [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 252, 29.10.1900, S. 8312]., außerordentlich auf mich gewirkt hat.
Ich habe mich aber, offen gestanden, nicht recht getraut, weil ich nicht weiß,
ob ich mich nicht doch irre, wenn ich den guten Marquis satirisch nehme, nemlichSchreibversehen, statt: nämlich.
als eine Caricatur jener kleinen Would-Be-AbenteurerMöchtegern-Abenteurer., die sich | gewaltsam zum
ÜbermenschenRekurs auf den durch Friedrich Nietzsche popularisierten Begriff, den Hermann Bahr in seinen Bemerkungen zum „Marquis von Keith“ zitiert hat, als er schrieb, er „empfinde zu stark, was in Wedekind drängt, um es verschweigen zu dürfen. Der banale ‚Uebermensch‘, der die verlotterte Phantasie unserer jungen Leute bethört, diese ‚Kreuzung von Philosoph und Pferdedieb‘, wie er seinen Marquis von Keith sagen läßt, macht ihn so rabiat, daß er in diesem Zorn einen anderen Menschen der Zukunft entwerfen wird, so sicher, so selbstbeherrscht und so milde, als jener wirr und wüst ist.“ [Hermann Bahr: Frank Wedekind. In: Neues Wiener Tagblatt, Jg. 35, Nr. 249, 11.9.1901, S. 2] und Casanova emporstrecken möchten und
doch, der Seelenkraft nach, nur Philister sind. Jedenfalls ist es mir einfach
unbegreiflich, daß ein so hohes und ungemeines Werk von so rätselvoller
Schönheit von unseren Bühnen ignoriert wird, die sich die Finger danach
ablecken sollten. Ich höre aber, daß es Jarno ja geben willJosef Jarno, Direktor des Theaters in der Josefstadt in Wien [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 570], plante eine Inszenierung des „Marquis von Keith“, die sich aber verzögerte und erst am 30.4.1903 im Theater in der Josefstadt Premiere hatte.. Hoffentlich kommen
Sie dazu nach Wien und ich habe die Freude, dann über Vieles mit Ihnen sprechen
zu können. ImSchreibversehen, statt: In. dieser frohen Erwartung grüßt bestens
Hermann Bahr