Sehr geehrter Herr DirectorRichard Strauss, Kapellmeister in München (Hildegardstraße 2) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1896, Teil I, S. 486], als Hofkapellmeister leitend am Münchner Hoftheater tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1896, S. 436]. Wedekind nimmt mit dem vorliegenden Brief den Kontakt zu dem Komponisten auf „und schlägt ihm vier große Bühnenprojekte vor“ [Becker 1989, S. 174].,
erlauben Sie, einem unbekanntenSchreibversehen, statt: Unbekannten., Ihnen mit einem
künstlerischen Vorschlag nahe zu treten, in dem er Sie von vornherein bittet,
nichts anderes als die größte Hochschätzung Ihrer Compositionen sehen zu
wollen.
Es handelt sich um ein großes Ausstattungsstücknicht ermitteltes Bühnenprojekt, das von Wedekind „nicht mit genauem Titel bezeichnet ist.“ [Becker 1989, S. 174],
besser gesagt Ballet, in sieben Bildern, mit den denkbar prachtvollsten
scenischen Wirkungen, reich an musikalischen Vorwürfen jeder Art, vom sublim
Lyrischen bis ins großartig Elementare, mit ununterbrochenen | zwingenden Anlässen
zur Entfaltung von Tänzen, deren verschiedenartige, sich an Geschmack und
Wirkung sich überbietende Charaktere durch die Handlung geschaffen sind. Der
Stoff ist nicht mein Eigenthum, er liegt novellistisch fertig vorWelchen älteren novellistisch bearbeiteten Stoff Wedekind dem Komponisten als Bühnenprojekt vorschlug, ist unklar (Autor oder Autorin der Novelle sind nicht genannt)., und gehört
dem, der ihn aufnimmt. Um somehr wundert es mich seit Jahren, daß er noch von
keinem Componisten verwerthet worden; vielleicht deshalb, weil er nur von einem
Künstler ersten Ranges, dem kein Gebiet verschlossen ist, musikalisch
bewältigt, erschöpft, ausgefüllt werden kann, wiewol er einen, übrigens allgemein
bekannten Schriftsteller zweiten Ranges zum Schöpfer hat. | Der Stoff ist, wenn
er auch nicht aus unserer Zeit stammt, in verschiedener Hinsicht sehr modern,
doch eigentlich erst durch unsere Zeitrichtung modern geworden.
Da ich die Idee, den Gegenstand zu einem Ballet
in großem Stil zu verwerthen, seit mehreren Jahren mit mir herumtrage, würde
ich mir das Recht vorbehalten, im Fall sie günstige Aufnahme von Seiten eines
Künstlers findet, das Scenario zu schreiben. Darf ich Sie bitten, geehrter Herr
Director, wenn es mir gelungen wäre, Sie zu interessiren, mir dieses Recht
zusichern zu wollen, und über meine Mittheilung, wenn Sie sie entgegenzunehmen
wünschen, für den Fall, daß sie Ihnen werthlos | erscheint, Discretion walten
zu lassen. Es wäre durchaus kein Wunder, wenn Sie sich selber schon mit dem
Stoff vertraut gemacht hätten. In diesem Fall hätte es für mich keinen weiteren
Zweck, ihn geheim zu halten.
Übrigens bitte ich Sie, glauben zu wollen, daß
Sie der erste Künstler sind, an den ich mich mit dem Gedanken wende, und daß
ich, wenn mein Bemühen zu nichts führt, mich schwerlich an jemand anders wenden
werde, indem das Sujet ausgesprochen germanischer Natur ist und ich es auf
keinen Fall einem ausländischen Componisten übergeben möchte.
Ich erlaube mir, Ihnen mit gleicher Post zwei
meiner ScenarienWedekind sandte dem Komponisten seine Tanzpantomimen „Les Puces. La Danse de Douleur“ („Die Flöhe oder Der Schmerzenstanz“) [KSA 3/I, S. 9-37] und „Der Mückenprinz“ [KSA 3/I, S. 39-49], um sie auf die Bühne zu bringen [vgl. KSA 3/II, S. 767, 176], was ihm nicht gelang. Die übersandten Manuskripte sind nicht erhalten. zu sendenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Sendung der Manuskripte „Les Puces“ und „Der Mückenprinz“ (siehe oben); erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Richard Strauss, 11.2.1896. mit der Bitte, darauf ur|theilen zu wollen, ob ich
eventuell zum bühnenfähigen Arrangement eines größeren ernsteren VorwurfesVorlage für eine künstlerische Bearbeitung.
befähigt wäre oder nicht. Das eine habe ich für einen französischen ComponistenWedekind hat seine Tanzpantomime „Les Puces“ 1892 in Paris für Raoul Pugno geschrieben, von dem er zunächst glaubte, er habe ihn für eine Komposition gewonnen [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 8.11.1892], was dann nicht der Fall war; „auch seine Hoffnung, Richard Strauss könnte sich für eine Vertonung der ‚Flöhe‘ interessieren, zerschlug sich. Strauss hat sich jedoch ernsthaft mit Wedekinds Vorschlag beschäftigt, wie eine flüchtige Notation in einem Skizzenbuch des Komponisten aus dieser Zeit bestätigt“ [KSA 3/II, S. 765].
geschrieben und bin vielleicht aus Mangel an Bekanntschaft bis jetzt noch an
keinen damit gelangt. Das andere ist lediglich Phantasie ohne Anspruch auf
Bühnenfähigkeit. Übrigens werde ich Ihnen
zum gleichen Zweckum Musik zum Dramentext zu komponieren. Wedekind „bietet [...] Richard Strauss sein Drama ‚Erdgeist‘ als Opernstoff an.“ [Becker 1989, S. 174] nächster Tage auch eine Bühnenarbeit von mir „Erdgeist“
übersendenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung (sie dürfte auf den Weg gegangen sein); erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Richard Strauss, 14.2.1896. Wedekind schickte dem Komponisten seine als „Bühnenmanuscript“ [KSA 3/II, S. 858] im Verlag von Albert Langen gedruckte Tragödie „Der Erdgeist“ (1895), dem Erstdruck: „Jedem Akt ist eine Bühnenskizze beigegeben.“ [KSA 3/II, S. 858].
Ich ersuche Sie, geehrter Herr Director die
Versicherung | meiner höchsten Verehrung entgegen nehmen zu wollen.
Zürich, Fest-Gasse 21. ‒ 11.II 96.
Frank
Wedekind.