FRANK WEDEKIND.
MÜNCHEN, den 3.
April 1903.
Franz Josefstr.
42/II.
Lieber FreundHeinrich Kunolt wohnte in Berlin in Untermiete in der Kochstraße 46 [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 296].!
Vorerst meinen
herzlichen Dank für Deine vielfachen BemühungenHeinrich Kunolt hat sich in Berlin für eine Aufführung der Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897) an Ernst von Wolzogens Bunten Theater (Überbrettl) eingesetzt [vgl. Wedekind an Heinrich Kunolt, 11.10.1902], wo er als Inspekteur tätig war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 296], und zwar für eine Aufführung an der Bunten Bühne unter der Leitung von Martin Zickel (siehe unten). Die „für Ende April 1903 angekündigte Aufführung in Berlin auf der ‚Bunten Bühne‘ Ernst von Wolzogens kam nicht [...] zustande.“ [KSA 3/II, S. 794] „Das Manuskript dieser Bearbeitung“ (es ist verschollen) hat der „Kunstmaler Heinrich Kunold [...] geschrieben.“ [Kutscher 3, S. 313], durch die der schwerste
Schritt, die Censur nun schon überwundenDie Aufführung der Pantomime (siehe oben) war seit wenigen Tagen freigegeben, wie der Eintrag auf dem Titelblatt des Pflichtexemplars von „Die Kaiserin von Neufundland“ (datiert: Berlin, 31.3.1903) ausweist, das dem Berliner Polizeipräsidium zur Vorzensur eingereicht worden ist: „Genehmigt für das Bunte Theater unter der Voraussetzung decenter Darstellung.“ [KSA 3/II, S. 797] ist. Was das weitere betrifft, so gebe ich Dir gerne
völlig freie Hand, vorausgesetzt, daß die Einstudierung der Pantomime mir
vorbehalten bleibt. Ich mache dich aber darauf aufmerksam daß Zickel meine
definitive Zusagenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Martin Zickel, 15.12.1902. Martin Zickel in Charlottenburg (Grolmanstraße 55) [vgl. Berliner Adreßbuch 1903, Teil I, S. 2020], inzwischen verzeichnet als stellvertretender Direktor und Oberregisseur an Ernst von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 269], das er zunächst ab dem 1.9.1902 gemeinsam mit Marcell Salzer geleitet hat – „Das Bunte Theater eröffnet seine neue Spielzeit unter der Direktion Dr. Martin Zickel und Marcell Salzer am 1. September d.J.“ [Die kommende Saison im „Bunten Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 31, Nr. 329, 2.7.1902, Morgen-Ausgabe, S. (3)] – und dann am 15.12.1902 zusammen mit Erich Paetel übernahm: „Dr. Martin Zickel und Erich Paetel übernehmen am 15. d. M. das Bunte Theater in der Köpenickerstraße. Die Bühne soll noch im Laufe dieses Winters in ein regelrechtes Theater umgewandelt werden.“ [Unterhaltungsblatt des Vorwärts, Nr. 234, 2.12.1902, S. 936] „Wie wir hören, werden die neuen Inhaber die Bühne nach und nach in ein reguläres modernes Theater-Programm überführen, so daß für diese Saison der bunte Theil wohl noch beibehalten werden dürfte.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 563, 2.12.1902, Morgen-Ausgabe, S. 9] hat und demnach berechtigSchreibversehen, statt: berechtigt. wäre auf der Aufführung zu
bestehen.
Was nun die
ScharfrichterHeinrich Kunolt ist bei den Elf Scharfrichtern, deren Ensemblemitglied Wedekind war, aufgetreten; er spielte in Wedekinds Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897), die von den Elf Scharfrichtern am 12.3.1902 in München uraufgeführt wurde, erfolgreich die Rolle des Athleten Eugen Holthoff [vgl. KSA 3/II, S. 797]. betrifft | so befinden
sie sich augenblicklich auf Turneé in Frankfurt am MainDie Presse vor Ort meldete: „Nun sind die ‚elf Scharfrichter‘ endlich auch zu uns gekommen.“ [Die elf Scharfrichter. In: Frankfurter Zeitung, Jg. 47, Nr. 93, 3.4.1903, 3. Morgenblatt, S. 2]. In Nürnberg kam es zu
StreitigkeitenWedekind hatte an der aktuellen Tournee der Elf Scharfrichter nur kurz teilgenommen, da es bei dem Gastspielaufenthalt in Nürnberg (siehe unten) zwischen ihm und Leo Greiner (Scharfrichtername: Dionysius Tod), der die „Regie“ [Wedekind an Beate Heine, 18.3.1903] führte, zum Streit gekommen ist, Wedekind die Gastspielreise mit den Elf Scharfrichtern abbrach und nach Cannstatt bei Stuttgart reiste, wo er bereits am 6.3.1903 in seinem Einakter „Der Kammersänger“ auftrat [vgl. KSA 4, S. 393]. zwischen Greiner und mir, die mich veranlaßten, die Reise nicht
weiter mitzumachen. Sie würde daher eventuell auch nach Berlin ohne mich
gehen. Henry schrieb mirHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Marc Henry an Wedekind, 30.3.1903. Der Kabarettist und Chansonnier Marc Henry war Gründungsmitglied der Elf Scharfrichter und deren Leiter. allerdings vor einigen Tagen ich möchte doch wieder
mitmachen. Ich konnte mich aber dazu bis jetzt noch nicht entschließen. Die ganze Scharfrichterei ist mir entsetzlich
verleidet. Wenn Zickel auf meiner Mitwirkung bei dem Gastspiel bestände, wie
das Meßthaler in NürnbergDas Gastspiel der Elf Scharfrichter in Nürnberg, der ersten Station ihrer Tournee, fand am Intimen Theater (Direktion: Emil Meßthaler) statt und hatte einen erfolgreichen Auftakt: „Aus Nürnberg, 3. März, wird uns geschrieben: [...] Mit dem gestrigen Abend sind die ‚Elf Scharfrichter‘ zu einem mehrtägigen Gastspiel in das Intime Theater eingezogen. Das Theater war bis auf wenige Plätze ausverkauft; auch die Damenwelt war unter dem distinguierten Publikum stark vertreten. M. Henry gewann schon als liebenswürdiger Konferenzier die Sympathien mit einem Schlage“, das Programm fand „den lebhaftesten Beifall“, darunter „Wedekind mit seinen eigenen Dichtungen. (Demnächst wird auch Wedekinds ‚Marquis von Keith‘ mit dem Verfasser in der Titelrolle im Intimen Theater zur Aufführung kommen.) Die Elf Scharfrichter sind entschieden das beste ‚Ueberbrettl‘, das wir hier in Nürnberg zu sehen bekommen haben.“ [Aus dem Nürnberger Theaterleben. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 56, Nr. 110, 7.3.1903, Vorabendblatt, S. 2-3] that, so wären sie ja gezwungen mich mitzubringen, aber,
offen gesagt, sehne ich mich auch danach nicht sehr, wiewohl | ich ganz gern wieder einmal nach Berlin käme. Der Pantomime könnte ich dort augenblicklich aber wohl wenig nützen. In dem Moment,
wo meine Anwesenheit wirklich notwendig ist, würde ich wol schon irgend ein Gastspielengagement
in Berlin finden, das mir die Reise- und Aufenthaltskosten deckt. Aber das hat
vorderhand ja noch Zeit.
Dein ausführlicher Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Heinrich Kunolt an Wedekind, 1.4.1903.
hat mich in hohem Grade interessiert. VorGestern
nach der Kegelbahndie von Max Halbe in München gegründete literarische Kegelgesellschaft Unterströmung (sie traf sich in der Dichtelei), in der Heinrich Kunolt verkehrt hatte [vgl. KSA 7/II, S. 821]. „Der Geselligkeit diente Max Halbes zur Kegelbahn gewordene ‚Unterströmung‘“, zu deren Kreis auch der „Maler Heinz Kunold“ [Kutscher 2, S. 74] zählte. laß/s/ ich ihn in der Dichteleiim Weinlokal Zur Dichtelei (Türkenstraße 81) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 729], ein Künstlerlokal der Schwabinger Boheme. im engsten Kreise. Halbe
stempelte Dich daraufhin zum perfecten Jurnalisten und empfahl Dich DanneckerAdolf Dannegger war Schriftleiter der gemeinsam mit Alexander von Bernus herausgegebenen Münchner Zeitschrift „Freistatt. Kritische Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst“, an der auch Wedekind mitarbeitete. Er dürfte am 2.4.1903 das Weinlokal Zur Dichtelei besucht haben, wo er wohl auch sonst verkehrte [vgl. Mühsam 2003, S. 74] und zum Kreis um den Akademisch-Dramatischen Verein zählte [vgl. Kutscher 3, S. 73].
als Correspondenten für die „Freistatt“ ‒ Alle lassen Dich aufs herzlichste Grüßen auch Luise | BerthaLuise Halbe (geb. Heck), Max Halbes Ehefrau, und ihre Schwester Bertha Heck., KayserlingSchreibversehen, statt: Keyserling..
Ich danke Dir noch einmal aufrichtig für Deine
Mühe und bleibe mit bestem Gruß Dein getreuer
Frank.