Deutsche Reichspost
Postkarte
An
Herrn Franklin Wedekind Schriftsteller
in München
Wohnung (Straße und Hausnummer)
Akademiestraße 21III |
Berlin W. Magdeburgerstrasse 11 Hof III
am 21. October 1889
Mein lieber Freund!
Da ich mich bis heute über meine verdammenswerte
Nachlässigkeit im Briefschreiben immer mit der Ausrede getröstet, ich wolle die
PremiereDie Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ (1889) durch den Verein Freie Bühne am 20.10.1889 im Lessingtheater in Berlin unter der Regie von Hans Meery, wie der Theaterzettel anzeigt [vgl. Leppmann 1989, S. 122], als Mittagsvorstellung um 11.30 Uhr – angekündigt: „Gerhardt Hauptmanus sociales Drama ‚Vor Sonnenaufgang‘ gelangt am Sonntag, den 20. Vormittags 11½ Uhr, im Verein ‚Freie Bühne‘ (im Lessingtheater) zur Aufführung“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 487, 18.10.1889, Morgen-Ausgabe, S. 11] – brachte den Durchbruch des Naturalismus und zählt zu „zu einem der großen Skandale der Bühnengeschichte“ [Leppmann 1989, S. 123]. von Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ abwarten, um Dir die
schuldige Epistellängerer Brief. zu schreiben, so will ich heute vor allen Dingen Dein gedenken. Da ich aber anderseits gerade heute &
gerade in Folge der gestrigen Aufführung sehr beschäftigt bin, so mußt Du Dich
bis auf Weiteres mit diesem Kärtchen zufrieden geben. Also I. wir sind gesund
und vielfach tätig und hoffen dasselbe von Dir. II. Ich habe gestern der mit
starkem KrakehlDie Presse – ihr „Echo“ war „geteilt“ [Leppmann 1989, 129] – berichtete über die Uraufführung von „Vor Sonnenaufgang“ (siehe oben): „Die gestrige Aufführung des sozialen Dramas ‚Vor Sonnenaufgang‘ von Gerhart Hauptmann, die die ‚Freie Bühne‘ [...] veranstaltet hatte, gehört unstreitig zu den interessantesten Theaterdaten, die wir seit langer Zeit zu verzeichnen gehabt haben. [...] Für heute muß es uns genügen, ein möglichst getreues Bild der Aufnahme zu geben, die es bei dem Publikum gefunden hat. Selten haben wir die Gegensätze, die ja in jedem Publikum vorhanden sind, so scharf, ja so brutal im Ausdruck gefunden, wie gestern – brutal im Zujauchzen und brutal im Niederzischen. Nach meiner Schätzung war die Zuhörerschaft in zwei ungefähr gleiche Hälften getheilt. Es wurde gerade so viel geklatscht wie gezischt [...] und unter den wunderlichen Lauten dieses Konzertes erschien der jugendliche Dichter Gerhart Hauptmann nach jedem Fallen des Vorhanges.“ [P.L.: „Freie Bühne.“ In: Berliner Tageblatt, Jg. 18, Nr. 533, 21.10.1889, Montags-Ausgabe, S. (1)] „Die Vorstellung gestaltete sich zu einem Parteikampf, zu einer Demonstration für und gegen die neue Schule“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 493, 22.10.1889, Morgen-Ausgabe, S. (9)]. verbundenen Aufführung des „Vor Sonnenaufgang“ beigewohnt. Das
Stück ist eine sehr talentvolle Scheußlichkeit. Ich schreibe eben an einem Aufsatz
darüber für die N.Z.Z.Eine mit dem Namen Heinrich Welti gezeichnete Besprechung der Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ ist in der „Neuen Zürcher Zeitung“, die zwei Aufsätze dazu brachte, nicht erschienen; vermutlich hat er sie unter dem Pseudonym Caliban (nach der Figur aus Shakespeares „Der Sturm“) veröffentlicht [vgl. Caliban: Berliner Arabesken. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 69, Nr. 301, 28.10.1889, 1. Blatt, S. (1-2); Nr. 302, 20.10.1889, 1. Blatt, S. (1-2)], vielleicht auch unter dem Pseudonym Hans Thunichgut [vgl. Hans Thunichgut: Berliner Streifzüge. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 69, Nr. 323, 19.11.1889, 1. Blatt, S. (1-2)]. III.
Meine Wünsche auf Anstellung sind leider noch immer nicht erfüllt & so sehe
ich einem schweren Winter entgegen. Ich schreibe indessen wieder ein
ReclambändchenHeinrich Welti hatte in Reclams Universal-Bibliothek (Nr. 2421) als Band 9 der Reihe „Musiker-Biographien“ bereits eine Biografie Christoph Willibald Glucks veröffentlicht [vgl. Heinrich Welti: Gluck. Leipzig (1888)]., doch ganz im Geheimen. IV Emilien geht es ausgezeichnet; sie
hat jüngst die Gilda im RigolettoEmilie Herzogs Auftritt am 10.10.1889 als Gilda in Giuseppe Verdis Oper „Rigoletto“ war in der Presse angekündigt: „In der morgigen Aufführung des ‚Rigoletto‘ im Königlichen Opernhause wird Frl. Herzog zum ersten Male die Gilda singen.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 471, 9.10.1889, Morgen-Ausgabe, S. 8] mit großartigem Erfolg gesungen & auch
auf dem Concertpodium viel Beifall gefunden. V. Was treibst Du? Was macht Deine
Arbeit? Schade, daß Du nicht da bist, wir könnten zusammen ein Parodie Stück
etwa „Der hartnäckige Blasenkatarrh oder Die Heirat mit
Hindernissen“ im Ibsenstil oder à la Hauptmann: „Nach
Sonnenuntergang oder die Verwechslungen im Torusein Rotationskörper (in der Mathematik).“ schreiben. Hauptmann wurde ja
gestern ein ½ Duzzendmal gerufen!!! VI Zum Schluß, was zum Anfang stehen
sollte: Herzlichsten, besten Dank für Deine GastfreundschaftHeinrich Welti war während seines Kurzaufenthaltes in München (26.8.1889 bis 28.8.1889) täglich bei Wedekind zu Besuch. und viele Grüsse
von uns Beiden mit den besten Wünschen für Dein Wohlergehn und Deine Arbeit
Allzeit getreu Dein W.
Beste Grüsse auch an die KletzenbrühblaseAnspielung auf die Münchner Gastwirtschaft Zum Kletzengarten (Fürstenstraße 9) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1890, Teil II, S. 99], wo Heinrich Welti mit Wedekind dem Tagebuch zufolge am 26.8.1889 („Im Kletzengarten treffe ich Welti“, dem das „Kletzenbier [...] Sodbrennen gemacht“ hat) und 27.8.1889 („Welti und ich begeben uns in den Kletzengarten“) bis in die Nacht verkehrte. Da die ‚Brühblase‘ (eigentlich eine durch Verbrühung entstandene Blase auf der Haut) gegrüßt werden soll, dürften die Personen gemeint sein, die Heinrich Welti und Wedekind dort trafen (vor allem Musiker).Anspielung auf die Münchner Gastwirtschaft Zum Kletzengarten (Fürstenstraße 9), wo Welti mit Wedekind dem Tagebuch zufolge am 26.8.1889 („Im Kletzengarten treffe ich Welti“, dem das „Kletzenbier [...] Sodbrennen gemacht“ hat) und 27.8.1889 („Welti und ich begeben uns in den Kletzengarten“) bis in die Nacht verkehrte. Da die ‚Brühblase‘ (eigentlich eine durch Verbrühung entstandene Blase auf der Haut) gegrüßt werden soll, dürften die Personen gemeint sein, die Welti und Wedekind dort trafen (vor allem Musiker).