FRANK WEDEKIND.
Sehr geehrter Herr RüdererJosef Ruederer, Schriftsteller in München (Herzog Heinrichstraße 20, ab 1.4.1902: Uhlandstraße 4) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1902, Teil I, S. 525].!
wie soll ich Ihnen für die herrliche KritikÜber die Uraufführung von Wedekinds Schauspiel „So ist das Leben“ (später: „König Nicolo oder So ist das Leben“) am 22.2.1902 im Münchner Schauspielhaus, veranstaltet vom Akademisch-Dramatischen Verein, aus dem im Jahr darauf der Neue Verein hervorging, zu dessen Gründungsmitgliedern Josef Ruederer zählte, hatte dieser in seiner Besprechung am 27.2.1902 in der Berliner Zeitung „Der Tag“ [Nr. 97] geschrieben, es handle sich hier um ein wirkliches „künstlerisches Bekenntnis“, um einen dramatischen „Höhenflug“, „ein Stück innerlichsten Lebens“ sei „prachtvoll erzählt“ [KSA 4, S. 621]. danken, die Sie
über mein nunmehr schon so gut wie zu Grabe getragenes Stück geschrieben haben!
Daß sie von wärmsten ungetrübten Wohlwollen für mich durchtränkt und beseelt
ist, wird Jedem | der sie liest, auf den ersten Blick klar werden, und trotzdem
wird sich niemand einfallen lassen, Sie für voreingenommen zu halten, da Sie es
selber mit einer Vornehmheit wie ich sie noch bei keinem kritischen Geist
gefunden haben, aussprechen, daß Sie sich mit voller Absicht des Tadelns
enthalten. So bitte ich Sie auch, mir glauben zu wollen, daß die künstlerische
und seelische Größe die Ihre Zeilen erfüllt | mir von vornherein eine größere
Freude verursachen, als es der reelle Vortheil vermöchte, die/en/ mir
Ihre Anerkennung vielleicht einträgt. Halten Sie mich nicht für blind gegenüber
den eigenen Schwächen. Ich lese aus Ihrer Besprechung heraus, daß Ihnen die/er/
Anlaß gelegen kam, um ein wuchtiges Wort gegen die Nörgeleidie skeptischen bis ablehnenden Besprechungen der Uraufführung von „So ist das Leben“ [vgl. KSA 4, S. 632-637]. des ekelhaften
kleinen Ungeziefers zu schleudern, ein Wort, daßSchreibversehen, statt: das. Sie vielleicht bei | der nächsten Gelegenheit
sonst mit ebensoviel Feuer und Kraft gesprochen hätten. Um so mehr kann ich
mich freuen, daß Ihnen meine Arbeit gerade in den Schuß lief. So gilt auch mein
aufrichtiger herzlicher Dank Ihnen in erster Linie als dem Dichter und Menschen
und erst viel später Ihrem persönlichen Wohlwollen.
In Verehrung und Hochschätzung
Ihr
Frank Wedekind.
München 2. März 1902.