Sehr geehrter Herr SchaukalDr. jur. Richard Schaukal wohnte als Schriftsteller, Essayist und Kritiker in Wien (I, Spiegelgasse 1) [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1911, Teil II, Sp. 1446] und hatte einen Ruf als Repräsentant der Wiener Moderne des Fin de Siècle.!
Sie haben mich unsagbar beschämt. Danken kann ich Ihnen
nicht, denn das hieße irgend etwas von Ihrem LobWedekind bezieht sich auf einen einige Monate zuvor erschienenen Artikel Richard Schaukals über ihn in der Wiener Zweiwochenschrift „Der Merker. Österreichische Zeitschrift für Musik und Theater“ (Herausgeber: Richard Batka und Richard Specht), in dem es heißt: „Wedekinds ästhetische Bedeutung liegt in der moralischen Persönlichkeit. [...] Die schwerfällige Bühnenformel ‚Wedekind‘ bedeutet eine der bedeutsamsten Entwicklungsphasen der Bühne überhaupt. [...] Der dramatische Dichter Wedekind tritt als Revolutionär des szenischen Gehalts auf [...]. ‚Frühlings Erwachen‘ ist eines der genialsten Dramen der deutschen Literatur. [...] die Vorgänge sind scheinbar so realistisch momentan, als wäre ein Kinematograph am Werke, aber der lebendige Gehalt ist über und über mit bedrucktem Papier verklebt. [...] Das eigentümliche Phänomen der Wedekindschen Dichtung ist die romantische Ironie [...]. Wedekind ist aus dem Geschlecht der Romantiker [...]. Wedekind ist ein vollendeter Schauspieler seiner Dramen. [...] Sein Schauspielertum ist Mission. [...] Und man darf es ruhig sagen: das ist Seelenwirkung.“ [Richard Schaukal: Frank Wedekind. Skizze zu einem Porträt. In: Der Merker, Jg. 2, Heft 17, 1. Juni-Heft 1911, S. 722-729]. wirklich auf mich beziehen. Und
dabei vermeiden Sie noch sorgfältig den Ton des Gönners oder den Anschein
persönlichen Wohlwollens. Erlauben Sie mir nur, Sie von Herzen zu dem
farbenglühenden Porträt zu beglückwünschen, das Sie für die Leser des Merker
geschaffen. Wenn ich wieder nach | WienWedekind brach am 23.2.1912 zu den Proben von „Schloß Wetterstein“ (die geplante Uraufführung fand dann aber nicht in Wien statt) sowie zwei Vortragsabenden wieder nach Wien auf und reiste am 4.3.1912 zurück nach München [vgl. Tb]. Eine Begegnung mit Richard Schaukal hat er nicht notiert. komme, werde ich mir die Freude machen
Sie aufzusuchen, wenn Sie mir erlauben. Es sind jetzt sieben JahreWedekind hat Richard Schaukal demnach 1904 zuletzt gesehen (da er in diesem Jahr nicht in Wien war wahrscheinlich in München)., daß wir uns
nicht gesehen. Damals hoffte ich daß die ScharfrichterGedichte von Richard Schaukal sind im Repertoire der Elf Scharfrichter nicht vertreten, die sich im Herbst 1904 auflösten. Ihre prachtvolle Lyrik künstlerisch
zur Geltung bringen könnten. Leider waren die Scharfrichter schon zu
altersschwach.
Mit verehrungsvollem Gruß
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München
3.12.11.
[Kuvert:]
Herrn
Dr. Richard Schaukal
tit Redaktion
„Der Merker“
Wien IX 3.
Schwarzspanierhof. |
bitte ergebenst um gefällige ZusendungWedekind hat den Brief an die Redaktionsadresse der Wiener Zeitschrift „Der Merker“ adressiert, die er dem Heft entnehmen konnte, in dem er den Aufsatz Richard Schaukals (siehe oben) las: „Österreichischer Verlag, Wien IX/3 Schwarzspanierhof. Chef-Redakteur: Richard Specht – für die Redaktion verantwortlich: Otto König.“ [Der Merker, Jg. 2, Heft 17, 1. Juni-Heft 1911, S. 744] Wie von ihm erbeten wurde der Brief den Postzustellvermerken zufolge (siehe die Hinweise zur Materialität) an die Wohnadresse von Richard Schaukal weitergeleitet: Wien I, Spiegelgasse 1 [vgl. Lehmanns Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für die k.k. Reichs-Haupt- und Residenzstadt Wien 1911, Teil VII, S. 1094].
Wedekind.