[1. Briefentwurf:]
Sehr geehrter Herr Geller!
Erlauben Sie mir, zuerst die dritte letzte Ihrer drei
FragenDie Fragen sind in Oskar Gellers Vorbemerkung zur Umfrage „Der kommende Mann“ abgedruckt: „I. Wen empfehlen Sie als Freiherr von Speidels Nachfolger? / II. Welche Anforderungen nach künstlerischer Richtung stellen Sie an den neuen Intendanten? / III. Würden Sie für München die Befolgung des Wiener Prinzips befolgen, wonach dem Intendanten nur die Pflicht der Repräsentation überlassen bleibt, während das Schauspiel und die Oper berufenen Fachmännern als verantwortlichen Direktoren unterstellt würde?“ [Zeit im Bild, Jg. 10, Nr. 41, 1.10.1912, S. 1193] in Betracht Erwägung
zu ziehen. Ein IntendantNachfolger des anfangs umstrittenen, dann aber als aufgeschlossen geschätzten Generalintendanten des Münchner Hoftheaters (dazu gehörten auch das Residenztheater und das Prinzregentheater) Albert von Speidel [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 550], der das Amt am 1.10.1905 angetreten hatte [vgl. Alfred von Mensi: Albert Freiherr v. Speidel †. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 115, Nr. 36, 7.9.1912, S. 643], wurde Clemens von Franckenstein [vgl. Neuer Theater-Almanach 1913, S. 549], ernannt am 1.10.1912. mit zwei fachmännischen Direktorenzunächst in die Zeile darunter mit Einweisungszeichen umgestellt („Oper Direktoren unter sich“), die Umstellung dann mit Bleistift wieder gestrichen. unter sich scheint
mir für Schauspiel und Oper unter sich scheint mir unter allen Umständen die
be wünschenswerth schon aus dem einen Grunde da ein Mann von wirklicher reeller Fachkenntnis ja doch
nicht Intendant werden kann. Welcher Persönlichkeit der Intendantenposten
zufällt scheint mir dabei von geringerer Bedeutung zu sein. Je weniger
RückgradSchreibversehen, statt: Rückgrat. die Persönlichkeit besitzt um so länger wird sie sich im Amte halten.
Je stärker ihr RückgradSchreibversehen, statt: Rückgrat. ist desto früher wird sie an einer
Gallenstein-OperationAnspielung auf den verstorbenen Hoftheaterintendanten Albert von Speidel; er verstarb im Alter von 54 Jahren am 1.9.1912 an den Folgen einer Gallensteinoperation, der er sich am 19.8.1912 unterzogen hatte, wie Wedekind in der Presse lesen konnte: „Wie wir zu unserem lebhaften Bedauern hören, hat sich im Befinden des Herrn Generalintendanten Baron v. Speidel [...] bisher keine wesentliche Besserung gezeigt. Baron v. Speidel [...] begibt sich im Laufe des heutigen Nachmittags in die Klinik von Hofrat Dr. Krecke und wird sich dort morgen früh einer Gallenstein-Operation unterziehen.“ [Erkrankung des Generalintendanten Baron Speidel. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 65, Nr. 421, 20.8.1912, Vorabendblatt, S. 2] Erich Mühsam notierte am 2.9.1912 zur kulturpolitischen Brisanz des Todesfalls: „Gestern starb der Generalintendant des Hoftheaters Freiherr v. Speidel. Seine Krankheit war in der Torggelstube längst allgemeines besorgtes Gesprächsthema, und mich hat kaum je die Krankheit eines Fremden so aufgeregt wie diese. Sein Tod läßt für den Münchner Theaterbetrieb das Schlimmste befürchten. Bei der klerikalen Strömung, die jetzt in Bayern vorherrscht, kommt womöglich irgend ein stramm kirchlich gesinnter Mann an den Posten – und dann ists aus. Dann erleben wir den Fortgang Steinrücks, und es wird eine grenzenlose Öde im Repertoire sein.“ [Tb Mühsam] Wedekind dürfte sich an diesen Diskussionen in der Torggelstube beteiligt haben – er war dort nachweislich am 5.9.1912 (ebenso Albert Steinrück und Erich Mühsam), 7.9.1912 und 21.9.1912 [vgl. Tb]; er betrieb am 18.9.1912 „Hoftheaterdiplomatie mit Steinrück“ [Tb], unmittelbar auf die Frage nach der Nachfolge Albert von Speidels am Hoftheater anspielend. sterben zum Opfer fallen. Ein beneidenswerter Posten ist es auf keinen Fall. Deshalb
möchte ich auch niemanden als die für diese Stellung geeignetste Persönlichkeit
namhaft machen.
Was nun den Schauspieldirektor betrifft, so scheint mir nur
einer Mann in Frage zu kommen
dessen künstlerischen Stempel das Münchner Hofschauspiel tatsächlich und zu
seinem größten inneren und äußeren und inneren Vorteil seit drei
Jahren trägt. Der Mann ist | Albert Steinrück. Der einzige Nachtheil den seine
Ernennung zur Folge hätte wäre wohl der, daß sich Steinrück durch die Aufgaben des Direktors in seiner
Thätigkeit als Schauspieler beschränkt fühlen könnte. Bei der
bewundernswürdigen Arbeitskraft dieses Künstlers scheint mir aber diese eine solche Gefahr aber kaum in
Betracht zu kommen.
Auf IhreDiesen Absatz, der nach dem folgenden Absatz („Über die Wahl“) geschrieben ist, hat Wedekind mit Einweisungszeichen an diese Stelle umgestellt. zweite Frage: Welche Ansprüche in
künstlerischer Richtung stellen Sie an den neuen Intendanten? habe ich daher
nur die Antwort: Ernennen Sie Albert Steinrück zum SchauspieldirektorWedekind betrieb am 18.9.1912 „Hoftheaterdiplomatie mit Steinrück“ [Tb], den er im vorliegenden Brief als Nachfolger Albert von Speidels in der Funktion des Schauspieldirektors vorschlägt; außer ihm hat unter den Beiträgern von Oskar Gellers Umfrage (siehe unten) Heinrich Mann ebenfalls Albert Steinrück vorgeschlagen, Schauspieler und Regisseur am Münchner Hoftheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 551f.].!
Über die Wahl eines OperndirektorsGeneralmusikdirektor blieb zunächst Franz Fischer [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 553; Neuer Theater-Almanach 1913, S. 549]. Im Gespräch war allerdings der Dirigent Bruno Walter, der „von Baron Speidel die Kompetenzen eines Hofoperndirektors zugesichert bekommen“ [Der neue Hoftheaterintendant. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 65, Nr. 591, 1.10.1912, Morgenblatt, S. 2] hatte und die Operndirektion in München dann übernahm [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 559]. muß ich mich einer
Äußerung enthalten, da mir auf diesem Gebiet jede Sachkenntnis fehlt.
Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochschätzung
Ihr ergebener
FrW.
P.S. In den Abdruck dieser Äußerung kann ich natürlich nur
unter der Bedingung einwilligen daß er unverändert erfolgt.
[2. Druck in „Zeit
im Bild“:]
Sehr
geehrter Herr Geller!
Erlauben Sie mir, zuerst die letzte Ihrer drei FragenDie Umfrage [vgl. Der kommende Mann. Eine Rundfrage von Oskar Geller. In: Zeit im Bild. Moderne illustrierte Wochenschrift, Jg. 10, Nr. 41, 1.10.1912, S. 1193-1196] enthält (in dieser Reihenfolge) Antworten von Freiherr Alexander von Gleichen-Rußwurm, Max Halbe, Frank Wedekind, Ludwig Thoma, Hermann Bahr, Wilhelm von Scholz, Fritz Basil, Heinrich Mann, Joseph Ruederer und Friedrich Freksa. in
Erwägung zu ziehen. Ein Intendant mit zwei fachmännischen Direktoren unter
sich, für Schauspiel und Oper, scheint mir unter allen Umständen wünschenswert,
schon aus dem einen Grunde, da eine Autorität von detaillierter Fachkenntnis
für den Intendantenposten ja doch nur äußerst schwer zu finden ist.
Was nun den Schauspieldirektor betrifft, so scheint mir nur
ein Mann in Frage zu kommen, dessen künstlerischen Stempel das Münchener
Hofschauspiel tatsächlich, und zwar zu seinem größten äußeren und inneren
Nutzen, seit drei Jahren trägt. Der Mann ist Albert Steinrück. Der einzige
Nachteil, den seine Ernennung zum Direktor zur Folge hätte, wäre wohl der, daß
sich Steinrück durch die Aufgaben des Direktors in seiner Tätigkeit als
Schauspieler beengt fühlen könnte. Bei der bewunderungswürdigen Arbeitskraft
dieses Künstlers scheint mir eine solche Gefahr aber kaum in Betracht zu
kommen. Auf Ihre zweite Frage: Welche Ansprüche in künstlerischer Richtung
stellen Sie an den neuen Intendanten? habe ich daher nur die Antwort: Ernennen Sie
Albert Steinrück zum Schauspieldirektor.
Über die Wahl eines Operndirektors muß ich mich einer
Äußerung enthalten, da mir auf diesem Gebiet jede Sachkenntnis fehlt.
Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung
Ihr ergebener
Frank Wedekind.