München, den 11 November 1915.
Lieber Artur!
Vor vierzehn Tagenam 28.10.1915. Wedekind war aber nicht zwei, sondern sechs Wochen zuvor aus der Schweiz zurück nach München gekommen, am 30.9.1915 [vgl. Tb]. aus der Schweiz zurückgekehrt fah/n/d
ich Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Kutscher an Wedekind, 30.9.1915. Artur Kutscher dürfte Wedekind unter anderem geschrieben haben, dass er nun in Mülhausen an der Grenze zur Schweiz stationiert sei. vor, der mir die Freudennachricht verkündete daß Du
nicht mehr mitten im Feuer stehst. Hoffentlich dauert für Dich der AuffenthaltSchreibversehen, statt: Aufenthalt.
in Mühlhausen oder an der Neutralitätsgrenze noch fort. Über meine Krankheit
bin ich immer noch nicht | ganz hinaus. Ich habe noch drei allerdings sehr
kleine Löcher im LeibFolgen der zweiten Blinddarmoperation vom 15.4.1915. Wedekind musste einen medizinischen Gürtel tragen und die Wunde ständig neu verbinden., die kaum mehr etwas absondern, die mich aber hindern
etwas zu unternehmen. Mein Bismarck wird seit vierzehn Tagen gedruckt, aber so
langsam geht das vor sich, daß vor Weihnachten kaum Exemplare zu erwarten sind.
In der SchweizWedekinds Aufenthalt in Lenzburg und Umgebung mit Besuchen in Zürich vom 30.8.1915 bis 30.9.1915 [vgl. Tb]. habe ich mich weidlich gepflegt. Es waren idyllische Tage in
Lenzburg mit den Spaziergängen auf die Schlösser der Umgebung. Bei meiner
Mutter die eine fanatische Gottfried Keller Schwärmerin ist habe ich | die
vollendete klassische Sprache seiner Novellen von neuem bewundern gelernt, aber
als Mensch konnte er mir nicht viel neues bieten. Außerdem ist meine Mutter
eine begeisterte Kriegsfanatikerin, natürlich für Deutschland, worin wir
übereinstimmten. Aber ihre Kriegsbegeisterung lieferte die konstante
Reibungsfläche, die viel Erfrischendes mit sich brachte. Hier in München sehe
ich außer Martens und FriedenthalWedekinds Tagebuch dokumentiert die häufigen Treffen mit Kurt Martens und Joachim Friedenthal, vor allem im Café Luitpold. kaum einen Menschen. Im Theater hören meine
Frau und ich uns die alten guten Opern wieder an, Figaro und FidelioFrank und Tilly Wedekind dürften am 5.11.1915 Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ unter der musikalischen Leitung von Bruno Walter im Residenztheater [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 566, 5.11.1915, General-Anzeiger, S. 2] besucht haben, am 6.11.1915 Ludwig van Beethovens Oper „Fidelio“ unter der musikalischen Leitung von Otto Heß im Hoftheater [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 568, 6.11.1915, General-Anzeiger, S. 2], deren Besuch notiert ist: „Mit Tilly in Fidelio.“ [Tb], bei denen
| man die Schwere der Zeit auf einige Stunden vergißt. Sehr gespannt bin ich
auf d/D/eine Schilderungen der Kämpfe am Reichsackerkopf und LingerkopfDie Kämpfe am Reichsackerkopf, eine Gebirgsformation in unmittelbarer Nähe der elsässischen Stadt Münster, zogen sich von März bis Juli 1915 hin, die am Lingekopf vom 20.7.1915 bis 15.10.1915, mit großen Verlusten besonders in einer Schlacht am 4./5.8.1915. „Auf dem Reichsackerkopf [...] bezogen wir neu Wochen lang Stellung“, erinnerte sich Artur Kutscher, dann kam es zum „Einsatz am Lingekopf“ [Kutscher 1960, S. 114]. Artur Kutscher schilderte die „Vogesenkämpfe“ im danach benannten zweiten Teil seines „Kriegstagebuchs“ [vgl. Kutscher 1916, S. 39-100].,
die hoffentlich bald erscheinen. Zu Deiner Auszeichnung mit dem MilitärverdienstordenArtur Kutscher erinnerte sich: „Für den Einsatz am Lingekopf erhielt ich als einziger Kompanieführer des Regiments den Bayerischen Militärverdienstorden.“ [Kutscher 1960, S. 114]
meinen herzlichsten Glückwunsch. Ich/In/ acht TagenMaximilian Harden aus Berlin hielt am 20.11.1915 um 20 Uhr in München einen Vortrag; angekündigt war: „Samstag abends 8 Uhr findet in der Tonhalle der Kriegsvortrag von Maximilian Harden statt.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 593, 20.11.1915, Vorabendblatt, S. 3] Wedekind notierte am 20.11.1915: „Hardens Kriegsvortrag.“ [Tb] Hedwig Pringsheim sprach vom „glänzend besuchten Hardenvortrag, der vortrefflich verlief.“ [Pringsheim Tb, 20.11.1915] hält Harden wieder
einen Vortrag, ich zweifle aber noch daran ob er diesmal etwas neues zu sagen
weiß. In einigen Tagen erhältst Du eine BalladeWedekind widmete Artur Kutscher das Manuskript seiner Ballade „Pharo“ [vgl. Wedekind an Artur Kutscher, 12.11.1915]. Er hatte sie dem Tagebuch zufolge wenige Tage zuvor geschrieben, am 6.11.1915 („beginne zu Hause das Gedicht Pharo“), 7.11.1915 („An Pharo geschrieben“) und 8.11.1915 („Pharo fertig geschrieben“). Bei seiner „Unterredung mit Tilly über Pharo“ [Tb] am 10.11.1915 dürfte es auch darum gegangen sein, Artur Kutscher das „Pharo“-Manuskript zu schenken, in dessen Nachlass es erhalten ist [vgl. KSA 1/II, S. 1961]. von mir, nur zur Erheiterung,
nicht etwa als Zeichen leichtfertiger Stimmung. Mit herzlichen Grüßen von
meiner Frau und mir und besten Wünschen für Dein WohlergehenWedekind erfuhr womöglich erst am 15.11.1915 von Artur Kutschers Heimaturlaub, wie er an diesem Tag registrierte: „Kutscher kommt auf 3 Wochen Urlaub.“ [Tb] Dein alter
Frank Wedekind.
[Kuvert:]
Feldpostbrief
An den Leutnant und Kompanieführer
Herrn Professor Dr. Artur Kutscher
8. Reserv. Inf. Regim. 92
II Armee 19. Res. Division
|
Absender Frank Wedekind
Prinzregentenstr 50 München.