München, 27 November
1914.
Lieber Artur!
Nimm den herzlichsten Dank für Deine beiden ausführlichen
Briefenicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Artur Kutscher an Wedekind, 5.11.1914 und 19.11.1914.. Seit dem ersten vom 5. November hat sich der politische Horizont durch
das Eingreifen der Türkei gewaltig geändert. England muß sich nach allen Seiten
wehren und gegen Rußland stand unsere Sache seit Beginn des Krieges noch nie so
gut, wenn auch die Entscheidung noch aussteht. Frankreich scheint mir dadurch
beträchtlich erleichtert. Nach dem Kriege wird es von England und Deutschland
gleich freundlich umworben werden. Deutschland könnte mit seinen bisherigen
Erfolgen vollkommen zufrieden sein, wenn es nicht für den Österreichischen
Bruder eintreten müßte und die Gegner den Kampf aufgeben wollten. | Englands
Weltmachtstellung scheint mir derart erschüttert, daß eine Landung in England
nicht mehr unbedingt nötig wäre, wenn wir nur Belgien behaupten können.
Die Schilderung, die Du von Deinem Schützengraben giebst,
erfüllt mich mit geteilten Empfindungen wenn ich denke wie furchtbar Dich
dieses Leben anstrengen muß und welche Resignation nötig ist um es zu ertragen.
Vor acht Tagen kam Waldau aus dem Feld zurück mit einem Anfall von SkorbutWedekind hat Gustav Waldau, Münchner Hoftheaterschauspieler [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1915, S. 503], dem Tagebuch zufolge zwar nicht getroffen, dafür traf ihn aber bei einem „Frühschoppen“ Erich Mühsam, der bestätigt: „Er hat wegen Skorbut einen Kriegsurlaub“ [Tb Mühsam, 18.11.1914]., der
es ihm hoffentlich erspart noch einmal hinaus zu müssen. Es heißt, er werde
vielleicht demnächst wieder auftreten. Auf Dein Tagebuch freue ich mich ganz
außerordentlich und werde es sofort zu Müller bringenWedekind fragte zunächst bei seinem Verleger an, ob er ihm das Manuskript von Artur Kutschers „Kriegstagebuch“ zur Einsicht schicken dürfe [vgl. Georg Müller an Wedekind, 16.2.1915].. Ich glaube unsere DamenTilly Wedekind und Gertrud Kutscher (geb. Schaper), Artur Kutschers erste Ehefrau, von der er geschieden war.
haben wieder einen Thee ins Auge gefaßt. Die letzten acht TageWedekind notierte am 18.11.1914 die Ankunft seines Schwagers Dagobert (Bertl) Newes: „Bertl kommt von Graz. Er geht am Stock, zeigt mir seine Wunde. Schuß durchs Knie.“ [Tb] war mein
Schwager aus Graz hier mit einem Schuß durchs | Knie aus der Schlacht von
Lublin, aber keine ohne Lähmung sodaß er voraussichtlich wieder an die
Front muß. Die Münchner Geselligkeit wird immer spärlicher. Ich gehe abends
kaum mehr aus und suche etwas historisches auf die Beine zu stellenWedekind hatte mit der Arbeit an seinem „Bismarck“-Drama begonnen [vgl. KSA 8, S. 657-659]., was mir
allerdings große Mühe macht. Friedensgerüchte, die während der letzten Wochen
lautbar wurden, verstummen jetzt wieder, offenbar infolge des Türkischen
Eingreifens und unserer letzten Errungenschaften in Polen. Und doch ist der
Gedanke kaum auszudenken, daß Ihr den ganzen Winter durch in den Schützengräben
stehen sollt. Vergeblich suche ich den Horizont nach einer Möglichkeit ab, die
eine baldige Wendung herbeiführt. Heute ziehen wieder den ganzen Tag Truppen
durch die Straßen, immer noch mit Gesang trotz der kalten Witterung. Die
Wirthschaftliche Lage soll immer noch | glänzend sein, so daß der Krieg nur
durch die Menschenmassen verlängert wird. Glaub übrigens nicht daß ich etwa
klagen will. Es schmerzt mich nur daß ich Dir so wenig tröstliches über
Friedensaussichten schreiben kann. Trotz 21/12/ Uhr-PolizeistundeWedekind hat einen Zahlendreher korrigiert („21“ in „12“), womit er 12 Uhr nachts meinte, die kriegsbedingte Sperrstunde um 24 Uhr. werden übrigens hier wieder
Literatur-StreitigkeitenFritz Strich erläuterte hier: „Prozess Halbe – Fred. Der Schriftsteller Fred hatte Halbe wegen Beleidigung verklagt, weil dieser seine vaterländische Gesinnung in Zweifel gezogen hatte. Halbe wurde zu einer Geldstrafe verurteilt.“ [GB 2, S. 372] Ein Streit zwischen Max Halbe und dem Schriftsteller W. Fred (Alfred Wechsler) war am Abend des 21.11.1914 eskaliert, Wedekind hat am 22.11.1914 mit W. Fred den „Halbeskandal erörtert“ [Tb], eine Streitigkeit, die vor Gericht landete (Max Halbe wurde am 26.1.1915 zu einer Geldstrafe von 50 Mark verurteilt). vor Gericht verhandelt. Gott sei Dank habe ich nichts
damit zu tun. Vor einigen Tagen sah ich eine herrliche AufführungWedekind notierte am 20.11.1914 seinen Besuch von Herbert Eulenbergs Stück „Der natürliche Vater“ in den Münchner Kammerspielen: „Der Natürliche Vater in den Kammerspielen“ [Tb]. von
Eulenbergs „Der natürliche Vater“ in den Kammerspielen, überhaupt die beste
Eulenbergaufführung die ich bis jetzt erlebt habe, mit Erich Ziegel ist in
der Titelrolle, alles duftig, leichtfüßig und tief wie Wozzek oder Leonce und
LenaWedekind schätzte die beiden Stücke Georg Büchners sehr. Das Lustspiel „Leonce und Lena“ (1838) hat er am 31.5.1913 in den Münchner Kammerspielen gesehen (ein Gastspiel des Düsseldorfer Schauspielhauses) und die Uraufführung des „Woyzeck“ (1879 als „Wozzeck“) am 11.11.1913 am Münchner Residenztheater [vgl. Tb]. Beide Stücke hat er bereits 1894 in einem Notizbuch unter seinen „Arcana“ [Nb 1, Blatt 63v] notiert..
Mit herzlichsten Wünschen für Dein Wohlergehen und besten
Grüßen von meiner Frau und mir
Dein alter
Frank Wedekind.
[Kuvert:]
Feldpostbrief
An den Leutnant und Kompanieführer
Herrn Dr. Artur Kutscher
8. Res. Inf. Regiment No 92.
II Armee 19. Reserve Division