Sehr geehrter Herr
Doktor!
Gestern AbendWedekind hatte am 23.12.1910 (im Tagebuch kein Eintrag dazu) Besuch von dem in München lebenden Schriftsteller Eugen Albu (Kufsteiner Straße 2) [vgl. Adreßbuch für München 1911, Teil I, S. 6], der vom Neuen Verein zunächst wohl eine Zusage für einem Vortragsabend erhalten hatte, die dann offenbar durch Artur Kutscher zurückgenommen wurde. Die Lesung sollte dann doch stattfinden, am 3.3.1911, musste aber verschoben werden: „Der für heute abend 8 Uhr angezeigte Intime Abend, im Gobelinsaale der Vier Jahreszeiten, der eine Vorlesung von Eugen Albu bringen sollte, muß verschoben werden, weil der Vater des Vortragenden plötzlich verstorben ist.“ [Vom Neuen Verein. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 103, 3.3.1911, Vorabendblatt, S. 3] Sie fand am 4.4.1911 statt: „Der vierte Intime Abend bringt am Dienstag, 4. April, im Gobelinsaale der Vier Jahreszeiten abends 8 Uhr eine Vorlesung von Eugen Albu aus eigenen Werken.“ [Vom Neuen Verein. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 147, 3.4.1911, S. 3] war Herr Albu bei mir wegen einer
Angelegenheit, die soweit ich sie beurtheilen kann, sich doch vielleicht von
zwei verschiedenen Seiten ansehen läßt. Sie haben sicherlich recht darin, daß
die intimen AbendeFormat im Veranstaltungsangebot des Neues Vereins: „Intime Abende wurden veranstaltet und haben sich ausgebildet zu einer Institution, zu welcher ein kaum zu bewältigendes Angebot von Autoren erfolgt. Die Abende stehen im Dienste junger oder weniger bekannter Schriftsteller, Rezitatoren, Musiker, denen der Verein zum Vortrage Gelegenheit und Raum gibt. Das Niveau dieser Abende erwirbt die größere Aufmerksamkeit der Presse und erzeugt einen Andrang von Zuhörern, der fast die Intimität der Veranstaltung bedroht.“ [Kutscher 1912, S. 289] des N.V.Der Ende 1903 in Nachfolge des Akademisch-Dramatischen Vereins gegründete Neue Verein e.V. (Vereinslokal: Türkenstraße 28, Geschäftsstelle: Buchhandlung Heinrich Jaffe, 1. Vorsitzender: Dr. Wilhelm Rosenthal [vgl. Adreßbuch für München 1910, Teil III, S. 185]) veranstaltete vor allem geschlossene Vorstellungen neuer Dramen. „Die von der Polizei verbotenen Stücke Wedekinds wurden vom ‚Neuen Verein‘ vor geladenem Publikum gespielt“ [Mühsam 2003, S. 137]. Dem Vorstand gehörte ein Beirat an: „Der Vorstandschaft trat an die Seite ein aus etwa zehn Köpfen bestehender künstlerischer Beirat von Vertretern der Literatur, der bildenden Künste und der Musik.“ [Kutscher 1912, S. 288] Vorstand und Beirat waren am 28.11.1910 neu gewählt worden: „Am Montag abend fand die ordentliche Mitgliederversammlung des Neuen Vereins im Künstlerhaus statt. [...] Bei der darauf erfolgten Wahlhandlung wurden in den Vorstand wiedergewählt: zum ersten Vorsitzenden Rechtsanwalt Dr. W. Rosenthal; zum zweiten Vorsitzenden Schriftsteller Wilhelm Weigand; zum Kassier Direktor Julius Kaufmann; zum Schriftführer Dr. Viktor Mannheimer. In den Beirat wurden wiedergewählt: Professor Fritz Erler, Direktor Georg Fuchs, Schriftsteller Paul L. Fuhrmann, Kunstmaler Georg Ganß, Schriftsteller Karl Henckell, Dr. Georg Hirth, Privatdozent Dr. A. Kutscher, Kunstmaler Leo Pasetti, die Schriftsteller Josef Ruederer, Frank Wedekind und Wilhelm Weigand.“ [Vom Neuen Verein. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 63, Nr. 562, 1.12.1910, Morgenblatt, S. 3] nicht für Experimente daDer Neue Verein war „ein Experimentier-Institut für moderne, gefährliche, dem Zensor unsympathische Aufführungen“ [Mühsam 2003, S. 137] ‒ so die Sicht der durch Neubesetzung seit 1913 wirkenden innovationsoffenen Fraktion des Beirats, zu der Artur Kutscher eher nicht gehörte: „Dr. Kutscher war gewiß kein übertrieben revolutionärer Mann“ [Mühsam 2003, S. 138]. sind. Es fragt sich nur ob Herr Albu
durch ein Zurücknehmen der ihm gegebenen Zusage nicht mehr blos gestellt wird,
als die Sache werth ist. Ich glaube, wenn sich Herr Albu an den Verein als
solchen wendete, müßte der Verein sich auch diese Frage in
Berücksichtigung ziehen. Wenn Sie, geehrter Herr Doctor, sich durch einen
Albu-|Abend zu sehr zu exponieren glauben, was ich nicht einsehen kann, so wäre
es für Sie ja vielleicht ein Leichtes, die Verantwortung auf Karl Henckels und
meine SchulternKarl Henckell und Wedekind waren ebenso wie Artur Kutscher Beiratsmitglieder des Neuen Vereins (siehe oben). abzuladen. Auf jeden Fall glaube ich Sie Ihnen auch in Ihrem eigenen
Interesse den Vorschlag machen zu müssen, in dieser Angelegenheit nicht weiter
entscheiden zu wollen, bevor wir nicht Gelegenheit gefunden uns mündlich
darüber auszusprechenDie Aussprache fand wohl erst am 28.3.1911 stand (in der Torggelstube): „T.St. mit Dr. Kutscher und Beyrer“ [Tb]; unklar ist, ob die weitere Person Elisabeth Beyrer-Witting war oder ihr Gatte Eduard Beyrer (siehe unten).. Ich nehme an, und auch Herr Albu hat den Eindruck, daß
Ihr BriefArtur Kutschers Brief an Eugen Albu ist nicht überliefert. einer etwas nervösen Stimmung entsprang an der vielleicht die
TreibereienAntreiben, Hetzen. Wedekind ging wohl davon aus, dass die Bildhauerin Elisabeth Beyrer (geb. Witting) ihren vermutlich im Neuen Verein aktiven Gatten, den katholischen Münchner Bildhauer Eduard Beyrer (Gaußstraße 12) [vgl. Adreßbuch für München 1911, Teil I, S. 47], gegen Eugen Albu einzunehmen suchte. von der Beirer schuldig waren. Aber in dieser Angelegenheit wäre es
meines Erachtens wie gesagt ein leichtes für Sie, die Verantwortung abzulehnen
und dadurch Herrn Albu eine völlig unverdiente Beschämung zu ersparen. |
Ihnen, Ihrer verehrten Frau Gemahlin und den Ihrigen senden
meine Frau und ich die herzlichsten Wünsche für recht frohe Feiertage.
Mit herzlichemnSchreibversehen, statt: herzlichem. Gruß auf baldiges Wiedersehn
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
24.12.10.
[Kuvert:]
Herrn
Dr. Arthur Kutscher
München-Bogenhausen
Mauerkirch-StrasseSchreibversehen, statt: Mauerkircherstrasse. Dr. phil. Artur Kutscher wohnte in der Mauerkircherstraße 6 (4. Stock) [vgl. Adreßbuch für München 1911, Teil I, S. 327]. 6. |
Bitte an die Adresse in HannoverArtur Kutschers Mutter, die Witwe Dora Kutscher (geb. Zieseniß), wohnte in Hannover (siehe den Postzustellvermerk auf dem Kuvert): Auf dem Emmerberge 7 [vgl. Adreßbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1910, Teil II, S. 71]. Der Sohn war offenbar über Weihnachten zu ihr gefahren. nachzusenden.