Beersheba Springs, 28
Dezember 1888.
Mein lieber Franklin!
Beßten Dank für Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 11.11.1888. mit dem Berichte über Deines Vaters TodeFriedrich Wilhelm Wedekind starb am 11.10.1888.. Das Geschick war
ihm günstig; er hat einen raschen, kampflosen Tod gehabt; das ist ein großer
Trost für die Hinterlaßenen, wenn der Preis, den wir alle endlich für das
„Glück“? gelebt zu haben zahlen müßen, in nicht gar zu erschreckender Form eingefordert wird. ––
Also Du hast mir nicht
geschrieben, weil Du mir keine „Geistesthat“ zu berichten hattest! O, wie
verkehrt! Ich hatte Dich lieb gewonnen als Du noch | ein recht fauler
Schulknabe warst, der zwar KnitelverseSchreibversehen, statt: Knittelverse; – Paarreime mit meist vierhebigem Vers und unterschiedlich vielen Senkungen.
verfaßte, der aber deßwegen noch durchaus keinen künftigen Schiller oder Shackespear in Aussicht
stellte. Und später, als aus dem Knaben ein Jüngling, und
aus dem Jüngling ein Mann wurde, da freute es mich, daß Einem, dem ich gewogen
war um seines ganzen Wesens willen eine auf’s Ideale gerichteSchreibversehen, statt: gerichtete. Begabung eignete; nicht aber warst Du
mir lieb und werth weil Du dichterisch begabt warst und gesonnen warst als
Schriftsteller Deinen Platz in der Gesellschaft auszufüllen. Deine Briefe wären
mir ganz gleich willkommen gewesen, wenn Du schon nicht Leistungen zu melden
hattest. MannSchreibversehen, statt: Man. wird |
eben nicht Schriftsteller, wie man Schuster oder Schneider wird in zwei Jahren.
Der Eine schießt den Vogel runter mit zwanzig Frühlingenmit 20 Jahren., der andere kommt in’s Schwabenalter„A.[lter] von 40 Jahren, da vor dieser Zeit nach dem Sprw. die Schwaben nicht zum Verstand kommen.“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. I, Sp. 207] – die Geister reifen nicht in so gleichmäßigen
Tempo wie die Kirschen. Ich habe mir übrigens gedacht es möchte so etwas hinter
Deinem Stillschweigen stecken; an Deiner Freundschaft habe ich nicht geweifeltSchreibversehen, statt: gezweifelt.; und ebenso wenig
an Deinem Talente, trotzdem, daß Du einige Zeit im Nebel herum geirrt hast. Du
bist nicht der e/E/rste und wirst nicht der Letzte sein, der zick zack
wandert bevor er auf den richtigen Weg gelangt. Nun bist Du also die Juristerei losFrank Wedekind hatte – vom Vater vor die Wahl gestellt, Medizin oder Jura zu studieren – sich im Wintersemester 1884/85 in München für Jura immatrikulieren lassen, bald aber das Interesse am Fach verloren. Im Herbst 1886 musste er die Universität verlassen und durfte seit dem Sommersemester 1888 das Studium an der Universität Zürich fortsetzen, von der er dann (mit Zeugnis vom 29.11.1888) abging. und da sie Dir
gar so widerwärtig war, so gratulire ich Dir dazu. |
Sonst findt ich sie, wie überhaupt
ein Brodstudium oder einen gewöhnlichen Beruf nicht als ein Hinderniß für die
höhere geistige Entwicklung. Im Gegentheil es gewährt Gemüthsruhe. Wenn man
sich sagt: „so, jetzt
will ich ganz meinem Genius leben, nichts thun als nur den Eingebungen meiner
Muse folgen“ so knüpft sich hieran unmittelbar die Erwartung, daß nun auch
wirklich etwas geschaffen werde an dem man selbst und auch die Freunde Freude
haben. Ist die Muse nun spröde und will der Genius noch vor dem völligen
Erwachen ein bißchen
„duseln“ – wie wir’s ja auch gern thun am Morgen vor dem Aufstehen – dann wird
man leicht ärgerlich über, und irre an sich selbst und der Menschheit gegenüber
fühlt man sich in Schuld. Dieses geistige Un|behagen aber ist das
allerschlimmste für
den Geist; die productive Stimmung verlangt Gemüthsruhe und Selbstzufriedenheit
und Selbstvertrauen, und besonders auch gänzliche Gleichgültigkeit gegen die
Dauer, welche eine Production in Anspruch nimmt. Hat nun der Mensch einen
Beruf, den er pflichttreu, wenn auch halbwegs unlustig erfüllt, so stört ihn erstens das Gefühl der Leistungsschuldigkeit nicht, und zweitens, wenn sich
sein Genius sehr Zeit läßt mit der Hervorbringung eines Kunstwerkes, so hat er
die Entschuldigung der so schmal zugemessenen Zeit. So bleibt der Mensch
zufrieden und der Herr | Gerichtsschreiber, oder Asseßor, oder Seidenhändler
oder Consul überrascht eines Tages alle Welt mit einer gezeitigten
Meisterleistung, die ihn mit einemmal in die Reihen der Ersten ranschirtSchreibversehen, statt: rangirt.. Scheffel, Keller, Reuter und so viele
andere waren Juristen, Con. Ferd. Meier, RitterhausSchreibversehen, statt: Rittershaus., Freitag, Schmid-„Dranmor“ waren
Kaufleute, auch die Reihen der Lieutenants haben manchen vorzüglichen
Schriftsteller gestellt, vom „Schumach-er
und Poet dazuDas Zitat befindet sich in Johann Friedrich Schinks historischem Dreiakter „Hanswurst von Salzburg mit dem hölzernen Gat“ als Zweizeiler in einer Anmerkung zu Hans Sachs (I,12): „Die Herren Genies werden nicht schamroth werden, daß schon lange vor ihnen ein Mann war, / Ein großer Mann ein Schu / macher und Poet dazu / der seinen Schauspielen solche Coups du Genie einwob, die die damalgen dummen Leute für albern schalten, weil sie keinen Begrif von Urkraft des Genies hatten.“ [Johann Friedrich Schink: Marionettentheater, Wien, Berlin, Weimar 1778, S. 38]. – In Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ singt Meistersinger Hans Sachs in „Jerum! Jerum“ (II,6) die zitierte Passage – orthographisch leicht abgewandelt („Hans Sachs ein Schuh-/macher und Poet dazu.“)– [Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg (Zweite, für die Aufführung bestimmte Ausgabe), Mainz 1868, S. 66].“ und von der „Aurora, das ijst die hymmlische
MorgenrötheDer Schuster Jakob Böhme in Görlitz schrieb 1612 handschriftlich sein Erstlingswerk ‚Morgenrot‘ Unter dem Namen „Aurora, das ist: Morgenröthe im Auffgang und Mutter der Philosophie“ wurde das Werk erstmals 1634 (Amsterdam) postum veröffentlicht. Spätere Ausgaben variieren im Titel.“, die auch in der Schusterwerkstätte aufging ganz zu schweigen.
Dieser Weg aus dem „DusterDunkelheit, Düsternis.“
bürgerlicher WakerkeitSchreibversehen, statt: Wackerheit.
auf die Höhen wo der Lorbeer und die anständigen Honorare blühen ist der
leichteste und sanfteste; | aber die sanften, glatten Wege sind ja nicht
Jedermanns Sache; mancher will absolut „’s Leiterli(auch: Leiterliweg) schwierige Wanderung von Leimbach durch einen Hohlweg, auf den Grat zum Uetliberg, dem Züricher Hausberg.“ herauf statt mit der Eisenbahn auf den „UetliSeit 1875 führte die Uetlibergbahn (9130 Meter) vom Hauptbahnhof Zürich auf den Uetliberg.“ zu fahren. Also, mein
lieber Franklin, klettere über Stock und Stein; an „Stöcken“
wird’s Dir nicht fehlen, das sind die Philister, die gleich sagen „aus dem wird
nichts,“ wenn Einer ein wenig nebulirt; und die „Steine“ werden Dir die
Kritiker auch in den Weg legen. Verliere aber deßwegen den Muth nicht und eile
Dich nicht und laß dich nicht eilen durch die
gänzlich falsche Idee: Du seiest Deinen Freunden eine Geistesthat schuldig. Sag’
aber um Gotteswillen keinem der Schweizer-Philister Du gehest nach Berlin um ein Stück auf
die Bühne zu bringen und Deiner | Muse zu leben. Sag ihnen eher Du gingest um
die Runkelrübenkultur zu studiren, weil Du später auf dem Schloß Landwirthschaft
treiben wollest; oder, wenn Dir das zu prosaisch ist, sag’ lieber Du gehest um
zu – lumpen, um das freie Leben frei zu genießen. Die Ehrbaren machen dann ’s
Kreuz hinter Dir, aber Du bist dann doch den Druck los, daß in aller Eile etwas
von Dir erwartet wird. Deine Mutter
ist so klug und gut, daß sie Dir nicht unbequem wird, e die Andern laß es Dir nicht werden. –
Wenn Du nach Berlin gehst
mußt Du zu Hartmann’sDer Philosoph Eduard von Hartmann war in zweiter Ehe mit Alma Lorenz aus Bremen verheiratet. Das Ehepaar wohnte in Lichterfelde bei Berlin in ihrem Haus am Wilhelm Platz 9 im Parterre [vgl. Berliner Adressbuch 1888, Bd. 2, Anhang (Adress- Buch von Charlottenburg, Boxhagen- Rummelsburg, Friedenau, Friedrichsberg, Lichtenberg, Wilhelmsberg, Gr. Lichterfelde, Pankow, Plötzensee, Reinickendorf, Rixdorf, Schöneberg, Stralau, Tempelhof, Treptow, Weißensee und Wilmersdorf für das Jahr 1888), S. 66].; ich geb Dir
einen BriefDer Brief aus Beersheba Springs ist überliefert [vgl. Olga Plümacher an Alma von Hartmann, 9.6.1889 (Mü, FW B 130)]. Olga Plümacher sandte ihn an ihre Freundin Emilie Wedekind, die das Korrespondenzstück ihrem Brief an den Sohn beilegte [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.6.1889]. mit und Du
wirst Dir dort gefallen; sie üben eine sehr angenehme, „heimelige“
Gastfreundschaft, und sehen gerne junge Leute bei sich. |
Gleich nach Neujahr schreibe ich
an Deine Mutter. Gieb ihr heute meine aller herzlichsten Grüße. Ebenso grüße
Deine SchwesternErika (Mieze) und Emilie (Mati).
und Bruder DoctorArmin (Hami) Wedekind hatte sein Medizinstudium am 15.12.1887 erfolgreich an der Universität Zürich beendet und praktizierte in Zürich. Mit einer Doktorarbeit „Die Pocken im Kt. Zürich während der Jahre 1873-87“ promovierte er sich am 20.12.1888 [vgl. Vincon 2021, Bd. 2, S. 296]. wenn Du ihn siehst! –
Ich bat seiner Zeit Frau Dr. GanterAnna Ganter-Schilling, die Ehefrau des Gymnasiallehrers Prof. Dr. Heinrich Ganter (1848-1915) an der Kantonsschule Aarau, mit dem sie 1886 von Zürich nach Aarau gezogen war. Sie war die Tochter von Olga Plümachers Zürcher Freundin Katharina Schilling-Ganter und von Dr. Joseph Schilling-Ganter, und hatte von 1877 bis Herbst 1880 an der Universität Zürich Philosophie studiert (Abgangszeugnis 14.10.1880) [vgl. Matrikeledition Uni Zürich]. mir Deine
FeuilletonsDas waren aus dem Jahr 1887 erstens „Der Witz und seine Sippe. Betrachtungen“ [KSA 5/II, S. 82-93], erschienen vom 4. bis 6.5.1887 [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 123, 4.5.1887, 2. Blatt, S. (1-2), Nr. 124, 5.5.1887, 2. Blatt, S. (1-2), Nr. 125, 6.5.1887, 2. Blatt, S. (1-2)], zweitens „Zirkusgedanken“ [KSA 5/II, S. 94-106], erschienen am 29. und 30.7.1887 [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 209, 29.7.1887, 1. Blatt, S. (1-2); 2. Blatt, S. (1-2); Nr. 210, 30.7.1887, S. (1-2); vgl. auch KSA 5/III, S. 901] und drittens die Charakterskizze „Gährung“ [KSA 5/I, S. 21-36], erschienen vom 13. bis 18.10.1887 [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 285, 13.10.1887, 1. Blatt, S. (1-2); Nr. 286, 14.10.1887, 1. Blatt, S. (1-2), Nr. 287, 15.10.1887, S. (1-2), Nr. 290, 18.10.1887, 1. Blatt, S. (1-2)]. 1888 erschienen der Beitrag „Im Zirkus“ [KSA 5/II, S. 108-110] am 2. und „Im Zirkus II. Das hängende Drahtseil“ [KSA 5/II, S. 111-114] am 5.8.1888 [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 68, Beilage zu Nr. 215, 2.8.1888, S. (5); Beilage zu Nr. 218, 5.8.1888, S. (5)]., die
sie mir rühmte, zu senden; es geschah nicht. Wenn Du entbehrliche Ex. hast, würden mich
solche recht freuen. Solltest Du aufgelegt sein mit Deiner alten, jetzt leider
ja so einsamen und an
Herzensfreude verarmten Freundin zu plaudern, so sollte es mich sehr freuen und
bitte Dich doch nicht abhalten zu lassen, weil Du noch keinSchreibversehen statt: keinen. Anspruch auf einen Paragraphen in der
Literaturgeschichte für höhere Töchter hast. | Meine „Geistesthat“ ist auch
immer noch nicht abgeschoßenSchreibversehen statt: abgeschloßen..
Meine „GeschichteDie Abhandlung („Geschichte des Begriffes des unbewußten Geistes“) erschien nicht. Zur Thematik veröffentlichte Olga Plümacher zwischen 1888 und 1893 mehrere kleine Aufsätze insbesondere in der Leipziger Monatsschrift „Sphinx“, so zum Beispiel „Die theosophische Weltanschauung und die Philosophie des Unbewussten“ [vgl. Sphinx, Bd. 7, 1892, Nr. 80, S. 289–301]. des
Begriffes des unbewußten Geistes“, wo ich beim Thales anfing um beim Hartmann zu enden ist auch noch immer
Embrio; sie wird wohl kaum zur Reife kommen, mir fehlt der Glaube an der
Nützlichkeit meiner Arbeit und der Frohmuth der Seele, der erste Bedingung zu
geistiger Arbeit ist. Ich bin nicht mehr die ich war seidSchreibversehen, statt: seit. mein Junge mir entrißenOlga Plümachers Sohn Hermann war am 8.12.1886 in Beersheba Springs verstorben. ist. – Adieu nun lieber Franklin; laß’ also in jedem Fall
von Dir hören bevor Du nach Berlin gehst. Wie stellst Du Dich zum neuen Realismus? Ich habe manches
in dieser Richtung gelesen in neuester Zeit; könntest mal Deine Meinung
hierüber von StappelSchreibversehen, statt: vom Stapel. laßen.
Deine alte
Tante O. Plümacher.
[Im Querformat über den Text geschrieben:]
Erinnerst Du Dich des Arnold Hünerwadel’s? Er
hat diese WocheArthur Arnold Hünerwadel heiratete am 23.12.1888 in Beersheba Springs die 4 Jahre ältere Wilhelmine Hegé [vgl. Die Nachkommen des Hans Martin Hünerwadel in Lenzburg 1609 1937, S. 40, Nr. 128 (Stadtarchiv Lenzburg III X4, V Nr. 1b)]. hier in Beersheba eine
schöne Farm geheirathet und eine Frau dazu übernommen, die 4 Jahre älter ist als er. Das ist auch
Realismus.