BELLEVUE AU LAC
ZURICH
Zürich Schönbühlstraße 14.
26.6.17Wedekind notierte am 26.6.1917 in Zürich den vorliegenden Brief: „Brief an Kutscher.“ [Tb].
Lieber Artur!
Deine freundlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Kutscher an Wedekind, 20.6.1917., aus denen ein so großes
Wohlwollen redet, waren mir eine herzliche Freude. Auch die Vorlesung hier in
ZürichWedekind notierte am 13.6.1917: „Abends Vorlesung von Herakles in den Kaufleuten.“ [Tb] Das war die „Herakles“-Lesung um 20 Uhr im Saal zur Kaufleuten (Pelikanstraße 18) des Künstlertheaters in Zürich, angekündigt: „Im Winter 1916/17 arbeitete Wedekind in München an einem neuen Werk – er nennt es ein dramatisches Gedicht – ‚Herakles‘. Diese Arbeit, die in diesen Tagen bei Georg Müller in München als Buch erscheinen wird, wird Frank Wedekind heute abend 8 Uhr im Künstlertheater vorlesen; sie darf des Interesses der Literaturfreunde zum voraus gewiß sein.“ [Vorlesung Frank Wedekind. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 138, Nr. 1072, 13.6.1917, 2. Abendblatt, S. (3)] bestätigte, daß die Arbeit wirktWedekinds „Herakles“-Lesung am 13.6.1917 im Künstlertheater in Zürich (siehe oben) fand in der Presse eine positive Resonanz [vgl. KSA 8, S. 919-220]. Die „Vorlesung von ‚Herakles‘ im Saal zur Kaufleuten [...] hinterließ einen ungewöhnlichen, bleibenden Eindruck. [...] Der Dichter fesselte die begeistert Lauschenden bis zum Schluß“ [Zürcher Wochen-Chronik, Nr. 25, 23.6.1917, S. 227], „deutlich ist schon jetzt der Eindruck, daß Wedekinds ‚Herakles‘ groß im Wurf ist“ [J.H.: Frank Wedekinds „Herakles“. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 138, Nr. 1091, 16.6.1917, 2. Mittagblatt, S. (1)] – diese Besprechung hat Wedekind am 16.6.1917 notiert: „Kritik über Herakles in der N.Z.Z.“ [Tb]. Ob sie Gewicht hat, ist eine andere
Frage. Jedenfalls werde | ich nicht überrascht sein, wenn sie sich schließlich
als Kitsch entpuppt. Daß es Dir und Deinen Lieben gut geht freute mich sehr zu
hören. Hoffentlich genießt Ihr die herrlichen Sommertage in vollstem Maße. Das
schöne Isartal giebt ja reichlich Gelegenheit dazu. Weil unsere GastspieleFrank und Tilly Wedekind hatten „Erdgeist“-Gastspiele am Künstlertheater in Zürich (19. bis 21.5.1917), am Stadttheater in Basel (23.5.1917), wieder in Zürich (3.6.1917), in Davos (6.6.1917) und zuletzt am Kurtheater in Baden bei Zürich (23.6.1917). noch
fortgesetzt werden sollen haben wir uns für die nächsten drei Monate in Zürich
eingemietet, zufällig in derselben Wohnung in der | ich vor 30 Jahren als
ZimmerherrWedekind hätte demnach 1887 in Zürich schon einmal in der Schönbühlstraße 14 (3. Stock) gewohnt; belegt ist allerdings die Wohnadresse Schönbühlstraße 10 für die Jahre 1887 [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 25.9.1887] und 1888 [vgl. Wedekind an Sophie Haemmerli-Marti, 23.1.1888]. wohnte, in der Gerhard Hauptmann seinen unvollendet gebliebenen
RomanGerhart Hauptmann, der 1888 bis „Mitte des Sommers“ [Hauptmann 1937, S. 448] bei seinem Bruder Carl Hauptmann in Zürich zu Besuch war und dort „Frank Wedekind“ [Hauptmann 1937, S. 412] kennenlernte, arbeitete seinerzeit an einem Roman, „der, glaube ich, Lorenz Lubota heißen sollte.“ [Hauptmann 1937, S. 448] „Hauptmann liest Wedekind aus dem Manuskript eines ‚Lorenz Lubota‘ betitelten autobiographischen Romans vor, der von den sexuellen Nöten der Kindheit handelt und als verloren gilt.“ [Leppmann 1989, S. 116] und ich ihm meinen Schnellmaler vorlas1888 las „Wedekind das Stück in Zürich bei einem Treffen der Freitagabendgesellschaft im Freundeskreis vor. Da Gerhart Hauptmann, der bei dieser Lesung anwesend ist, sich vom Januar bis Herbst 1888 in Zürich aufhält, muß der Vortrag des ‚Schnellmalers‘ [...] innerhalb dieses Zeitraumes stattgefunden haben“ [KSA 2, S. 618]. In einem Interview, das Wedekind dem Journalisten Josef M. Jurinek gab, erzählte er, „daß die Vorlesung des ‚Schnellmalers‘ einen fast empörenden Eindruck auf Gerhart Hauptmann gemacht hat, dem für den Sinn der Vorlesung, der doch in angenehmem Zeitvertreib bestand, jede Schätzung fehlte.“ [Josef M. Jurinek: Frank Wedekinds literarische Anfänge. Unveröffentlichte Bekenntnisse des Dichters. In: Neues Wiener Journal, Jg. 24, Nr. 8215, 12.9.1916, S. 6] Bei Artur Kutscher konnte Wedekind Interesse für das Stück voraussetzen. Artur Kutscher hatte den „Schnellmaler“ 1914 im „Wedekindbuch“ als einen „Schwank voll Situations- und Dialogkomik“ gewürdigt, dessen Hauptfigur „ein frühes Stadium des ‚Marquis von Keith‘ genannt werden kann.“ [Friedenthal 1914, S. 194-195]. An geselligem Leben fehlt es hier
durchaus nicht. Reinhardt wurde zum Abschied eine nächtliche Dampferfahrt nach
der Halbinsel AuWedekind hielt zur Verabschiedung Max Reinhardts aus Zürich am 16.6.1917 fest (die Fahrt war mitorganisiert vom Hottinger Lesezirkel): „Nach dem Theater mährchenhafte Dampferfahrt nach der Au, zu Ehren Reinhardts veranstaltet vom Hot. Lesezirkel und Theatergesellschaft. Trage Brigitte B vor“ [Tb]. Die in der Mitte des Zürichsees gelegene Halbinsel Au hatte Klopstock im Jahr 1850 besucht, die ihn zu der Ode inspirierte, die Wedekind gleich darauf zitiert (siehe unten). Seine eigene auf der Au vorgetragene Ballade „Brigitte B.“ erwähnt er Artur Kutscher gegenüber dagegen nicht. veranstaltet mit Feuerwerk, Musik, Gesang und Tanz, bei der
alle literarischen Erinnerungen Zürichs auflebten und die Rezitation von „Schön
ist Mutter NaturZitat des erstens Verses von Friedrich Gottlieb Klopstocks Ode „Der Zürchersee“ („Von der Fahrt auf der Zürcher-See“, 1750): „Schön ist, Mutter Natur, Deiner Erfindung Pracht“ [Klopstocks Oden. Bd. 1. Leipzig 1798, S. 83]. Deiner Erfindung Pracht“ eine | Bedeutung gewann, als wäre die
Ode eben erst entstanden. Grüße bitte Martens und Friedenthal wenn Du mit ihnen
zusammentriffst. Von den freundlichen Wortendas nicht überlieferte Schreiben Artur Kutschers vom 20.6.1917 (siehe oben), in dem er sich über „Herakles“ geäußert hat und Wedekind einige Worte aus dem Schreiben („unreinen Gewalten seiner Heldentaten“) zitierend aufgreift., die Du über Herakles schreibst
berührten mich am stärksten die „unreinen Gewalten seiner Heldentaten.“ Hoffen
wir daß das Glück endlich wieder zur Menschheit zurückkehrt und uns im HerbstWedekind kehrte am 7.10.1917 zurück nach München, wie er notierte: „Reise von Zürich nach München.“ [Tb]
ein frohes Wiedersehn feiern läßt. Mit den herzlichsten Grüßen an Dich und
Deine liebe Frau von uns beiden
Dein alter
Frank Wedekind.
[Kuvert:]
BELLEVUE AU LAC
ZURICH
Herrn
Professor
Dr. Artur Kutscher
München
Kaulbachstrasse 77. |
Absender:
Frank Wedekind
Zürich Schönbühlstraße 14.