Stein a/Rh d. 2 Mai 1886.
Mein lieber Franklin!
Empfange meinen beßten Dank für
Deinen Brief vom III.
Aprilnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 3.4.1886.. Es freut mich daraus zu vernehmen, daß Du wohl bist und ein reges
inneres Leben führst, viel aufnehmend und verarbeitend. Ebenso freut es mich,
daß Du noch längerFrank Wedekind hatte seinen Vater darum gebeten, das Sommersemester 1886 noch in München studieren zu dürfen [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind 26.3.1886]. in München bleiben kannst,
wo Dir so viel Kunstgenüße zu theil werden.
Was nun Deine tragisch-komische PosseFrank Wedekind beendete die erste Fassung seiner tragisch-komischen Posse „Der Schnellmaler“ am Karfreitag (23.4.)1886. betrifft, so
wünsche ich dieser bucklichen Gracie (denn eineSchreibversehen, statt: ein. solches Gebilde dünkt mich eine tragisch
angehauchte Posse) alles | Gute auf ihren Lebensweg. Möge sie Gnade finden vor
den Augen eines Schauspielintendanten oder Directors und vor das Publikum
gelangen. Hast Du nur einigen Erfolg damit, d.h. wenn sie nur überhaupt aufgeführt
wird, nicht ausgezischt wird und so viel Honorar einträgt, daß es Dir
das Papier und die bei deren Unterbringung ausgelegten Porto-Unkosten und
abgelaufenen StiefelsolenSchreibversehen, statt: Stiefelsohlen.
zahlt, so brauchst Du gar nicht so ängstlich die Anonymität der Autorschaft zu
wahren. Denn wenn man eine wirkliche witzige Posse zu schreiben vermag, so ist das ein Zeichen, daß
man ein ganz gescheiter Bursch ist, und wohl das Zeug dazu besitzt auch | auchSchreibversehen, statt: auch |. auf einem andern Felde
seinen Gaulscherzhaft für Pegasus, das auch als Dichterross bezeichnete geflügelte Pferd der griech. Mythologie. zu tummeln. Was nun Deine Eigenthümlichkeit betrifft, daß aus den
als Novellen geplantenvielleicht die beiden im Sommer 1885 begonnenen, nicht namentlich genannten Novellenfragmente [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 5.9.1885] „Der Kuss“ [KSA 5/I, S. 314-319; zu den Fassungen S. 451-461] und „Trudi“ [KSA 5/I, S. 320-326; zu den Fassungen S. 786-795] sowie die wohl 1886 entstandene Novelle „Fanny“ [KSA 5/I, S. 14-19; zur Identifizierung der 3 Novellen vgl. KSA 5/I, S. 594f.]. Geschichten Romane (dem Umfang nach) werden, so ist das
eben eine Wirkung der zu ungebändigten jugendlichen Sprudelkraft des Geistes:
es will alles was in Kopf und Herz gärt mit einem mal heraus strömen in
die eine Form, die dann, dafür sich zu rege erweist, und auseinander
getrieben wird. Dazu kommt vielleicht noch ein Anderes. Kannst Du, wenn Du die
Hand auf’s Herz legst, mit gutem literarischen Gewissen sagen: „ich weiß den
Unterschied zwischen demjenigen, | was ein richtiger Romanstoff, und demjenigen was ein Novellenstoff charakterisirt;
ich weiß ganz genau den Unterschied zwischen Roman u. Novelle, so daß auch
meine längste Novelle kein Roman, mein kürzester Roman keine Novelle
wird?/!/ Kannst Du so sagen? Vielleicht nicht; es giebt sehr
gute, und sehr beliebte Schriftsteller, die es nicht können. InsbesondersSchreibversehen, statt: Insbesondere. Frauen können
keine Novellen schreiben, und die meisten englischen „Novells“
sind richtige Romane. Dagegen werden in Amerika für die feinern „Periodicals“
reizende, ganz knapp gehaltene Novellen geschrieben. Ich vermuthe es | hängt
etwas von der Nationalität ab, ob es einem fabulirenden Geiste näher liegt eine
Novelle oder einen Roman zu produciren. Hast Du Freude an Deinem Stoff, so lasse ihn
ja nicht deßwegen liegen weil er Dir die Novellenform gespregtSchreibversehen, statt: gesprengt. hat. Schreibe einen (im Detail nur
flüchtig ausgearbeiteten) Roman; und dann wenn dieser (aus dem Groben, im Rohguß) fertig ist, dann concentrire und destilire ihn im Geiste
zur Novelle – wenn‘s geht. In sehr vielen Fällen gehts; in vielen Fällen aber wird der
Roman den Stoff zu verschiedenen Novellen bieten. Will beides nicht gelingen,
dann ist der Stoff auch kein Romanstoff, sondern er bildet | nur eine
Erzählung. Aber eine Erzählung ist auch was schönes; sind doch die
liebenswürdigsten sogenanten Novellen von Gottfried Keller nichts anderes als
Erzählungen. So in den „Züricher-Novellen“,
die alle sammt u. sonders keine Novellen sind, sondern Erzählungen, oder
„Geschichten“ wie diejenigen der „Leute von Seldwyla“. Die Novelle ist die nächste VerwanteSchreibversehen, statt: Verwandte. zum Drama; so wenig
wir uns nun auch veranlaßt sehen können für die reichen Stoffe, welche unser
modernes Bewußtsein verlangt, um daran Genuß finden zu können, an der
klassisch-zopfigen Regel von der „Einheit der Zeit u. des Ortes“ |
festzuhalten, eben so wenig streng können wir diese Regel auf die „Novelle“
anwenden. Aber ganz vergeßen, daß diese Regel doch ihre Berechtigung, daß sie
eines der grundlegendsten Charakteristiconslatein-griechische Mischform für Charakteristik.
für Drama u. Novelle bildet, das dürfen wir nicht. Götz v. Berlichingen ist eine dramatisirte
Rittergeschichte und kein Drama, gerade so wie „Romeo u. Julia auf dem Lande“ („Leute von Seldwyla„Romeo u. Julia auf dem Dorfe“ gehört zu den bekanntesten Erzählungen aus Gottfried Kellers Novellenzyklus „Die Leute von Seldwyla“.“) keine
Novelle, sondern eine Erzählung, wenn auch eine, in der zweiten Hälfte
novellistisch krystallisirte Geschichte, resp.
Erzählung ist. Einheit von Zeit u. Ort bleibt für das Drama wie für die Novelle
die ideale Forderung, d.h. derjenige | Stoff ist der beßte Stoff
für das eine oder das andere, der sich willig dieser Regel fügt; Ein
Stoff, dessen Handlung innerhalb eines ganz engen/r/ räumlichen/r/
und zeitlicher Grenzen verläuft ist ein Novellenstoff, wenn er hauptsächlich innerlich
und durch bloßes Reden vermittelt verläuft; er ist ein Dramenstoff, wenn er
dabei in energischen Handlungen sich kundgiebt.
Verzeihe, wenn ich da Dinge geschwazt habe, die Dir natürlich auch geläufig
sind. Aber ich meinte
meine durch Deinen Brief erregten Gedanken aussprechen zu müßen, weil das zuweilen
das schon längst bekannte u. gewußte in anderer Form | und zu anderer Zeit wieder
vernommen eine andere Wirkung hat. Es ging mir darum Dich dadurch zu ermuthigen
der/ie/ begonnenen Arbeit des/ß/wegen nicht liegen zu lassen, weil sie
ein Roman zu werden drohe, statt einer Novelle; denn vielleicht ist der Roman,
den sie in erster Linie vorstellt nur der punctirte und roh zurecht gehauene
Block, aus dem dann erst unter der Hand des Bildhauers die Statur, respective
unter der concentrirenden Bearbeitung die Novelle entsteht. –––
Ich hätte Dir schon früher
geschrieben, aber es ist eine so gar kummervolle Zeit für | mich mit Hermanns ErkrankungOlga Plümachers Sohn Hermann war an Weihnachten 1885, an Tuberkulose erkrankt, aus Heilbronn zurückgekommen. angegangen. Mein
Herz war all’ die Monate so schwer belastet, daß auch mein Kopf dadurch
behindert ward; ich habe nur immer die eine bange Frage ventilirt: wie soll es mit meinem
armen Jungen werden. So habe ich denSchreibversehen, statt: denn. nicht nur nicht an meinem BucheEs dürfte sich um Olga Plümachers unvollendetes Buchprojekt „Geschichte des Begriffes des unbewußten Geistes“ handeln [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 28.12.1888]. gearbeitet, sondern auch meine Correspondenz
hat darunter leiden müßen; nur das Nothwendigste wurde erledigt. Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Hermann Plümacher, 3.4.1886. an Hermann habe ich
sofort an denselben weiter dirigirt; er ist seidSchreibversehen, statt: seit. dem 20 März in GersauSeit 1860 war Gersau – am Vierwaldstättersee gelegen – ‚Klimatischer Kurort‘. Die Kursaison begann am 15. März: „Die Kurmittel. Klima. Dasselbe ist mild und doch leicht anregend, gleichmäßig, mit geringen Temperaturschwankungen. Die Luft ziemlich feucht. Schutz gegen kalte Luftströmungen und Windstille. [...] Inhalationen, pneumatische Apparate und andere medizinische Hülfsmittel“ [vgl. Robertus Ferdinandus Flechsig: Bäder-Lexikon. Darstellung aller bekannten Bäder, Heilquellen, Wasserheilanstalten du klimatischen Kurorte Europas und des nördlichen Afrikas in medizinischer, topographischer, ökonomischer und finanzieller Beziehung, S. 406]. und lauten die zwei letzten Briefe etwas | tröstlicher
als die früheren. Er habe auch wieder 2 Pfund an Gewicht zugenommen – immerhin
ein gutes Zeichen.
Ich erlaube mir Dir hier einige Zeilennicht ermittelt. – In dem Korrespondenzstück dürfte Olga Plümacher die ausstehende Publikation ihres Aufsatzes „Das Verhältnis von Tugend und Glück in seiner geschichtlichen Entwicklung“ thematisiert haben [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 29.5.1886]. an Conrad von der „Gesellschaft“ einzulegen,
mit der Bitte dieselben gelegentlich abzugeben und Antwort in Empfang zu
nehmen. Die Katzengeschichtenicht überlieferte Erzählung, wohl Olga Plümachers, um deren Veröffentlichung Wedekind sich bemüht hatte [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 1.1.1886].
kannst Du im Sommer mit zurück bringen; es liegt weiter ja nichts daran, und
bedaure nur Dir damit so viel Mühe gemacht zu haben.
Doch nun will ich schließen,
denn irgend etwas Neues weiß ich Dir doch nicht zu berichten: mein Leben ist
von | der größten Einförmigkeit; ich sticke den größten Theil des Tages, Abends
spaziere ich mit Dagmar
und Louisevermutlich Pflegetochter Olga Plümachers, die im Herbst 1885 in Anzeigen um Pensionärinnen geworben hatte: „Für Eltern und Vormünder. Töchter finden mütterliche Pflege, Nachhülfe bei den Schulaufgaben oder allseitige Weiterbildung in einer kl. Familie, wohnhaft in einer kleinen Stadt a. Rh. Gesunde Lage; gute Schulen; billigste Pension. Adresse: Frau Consul O. Plümacher, Stein a. Rh., Kanton Schaffhausen.“ [Züricherische Freitagszeitung, Jg. 213, Nr. 38, 18.9.1885, S. (4); 2.10.1885, S. (4); 23.10.1885, S. (4)] ein Bischen und Aben
nach dem Thee lese ich noch ein wenig (Zeller’s Geschichte d. griechischen Phil.Eduard Zellers „Grundriss der Geschichte der griechischen Philosophie“ (Leipzig 1883) war 1886 in zweiter Auflage erschienen. Mit der Publikation kam Zeller dem Wunsch einer kurzen Bearbeitung [vgl. ebd., S. III] seiner mehrbändigen Schrift „Die Philosophie der Griechen. Eine Untersuchung über Charakter, Gang und Hauptmomente ihrer Entwicklung“ (Tübingen 1844-1852) nach. Von beiden Werken existieren zahlreiche Neuauflagen und Nachdrucke.)
und dann danke ich Gott, daß wieder ein Tag abgelaiert ist – und wenn’s der
letzte wäre, so wäre es mir auch sehr gleichgültig, denn die Zukunft liegt grau
in grau vor mir.
Lebe wohl mein lieber Franklin;
genieße das Leben in vollen Zügen, so lange es Dir noch genüßlich erscheint;
producire lustig drauf los: erst aus dem rohen und vollen, und nachher seihe u.
sichte und scheide aus, was beßer anderweitig verwerthet werden kann, nach dem
Worte: „in der Beschränkung zeiget sich der Meister“!
Schreibe mir auch gelegentlichab hier am linken Rand im Querformat beschrieben. wieder; junge
Briefe thun meimmeinem. alten,
müden Kopfe wohl.
Deine alte Freundin O. Plümacher.