München, Adalbertstraße 34. – 8. August. 96.
Hochgeehrter Herr Baron,
der erste Akt von Nirwana, den Sie erhalten habenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zum übersandten Manuskript; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Otto von Grote, 6.8.1896. Wedekind hatte dem Baron den 1. Aufzug seines Opern-Librettos „Nirwana. Musikdrama in fünf Aufzügen“ [KSA 3/II, S. 716-735] geschickt, „eine Auftragsarbeit“ [Becker 1989, S. 155], die Fragment blieb. ist die
strenge Arbeit von 10 Tagen„Wedekind begann Ende Juli 1896 mit der Arbeit an ‚Nirwana‘“ [KSA 3/II, S. 1460], wobei nur die Niederschrift einer Passage aus dem 2. Auftritt (von insgesamt drei Auftritten im 1. Aufzug) genau auf den 29.7.1896 datiert werden kann [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 1.8.1896].. Wenn ich im laufenden Monat nicht mit dem ganzen
Text fertig würde, so bliebe jedenfalls nicht mehr viel übrig, und, einmal so
weit gekommen, fände ich auf alle Fälle Gelegenheit ihn zu beenden.
Es sollte mir sehr leid thun, Herr Baron, wenn ich Ihre
Intentionen nicht getroffen hätte. Sie schreiben | mir in Ihren geehrten
Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto von Grote an Wedekind, 1.7.1896. Der Auftraggeber des Librettos (siehe oben) dürfte hier seine Vorstellungen von der geplanten Oper formuliert haben.:/,/ es läge Ihnen nicht der Gedanke an irgendwelchen
materiellen Erfolg zugrunde. Das ist aber, d.h. die praktische Verwerthbarkeit,
das Erste, wobei/ran/ ich bei der ganzen Arbeit gedacht habe,
1. weil Sie in Ihrem ersten geehrten Schreibennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto von Grote an Wedekind, 9.5.1896. Hier hatte der Auftraggeber noch „ein Oratorien-Projekt“ [KSA 3/II, S. 1459] skizziert, zu dem Wedekind durch Vermittlung Michael Georg Conrads den Text schreiben sollte – daraus wurde dann das Opernprojekt „Nirwana“ [vgl. KSA 3/II, S. 1459-1467]. an mich, in dem Sie mir die Idee
auseinandersetzten, selber mit der Aufführbarkeit rechneten („einmal aufgeführt
wid es Ihnen auch leichter werden mit Ihren Dramen auf die Bühne zu
gelangen[“]) – und 2. weil alles um mich her darauf ausgeht, sich eine
Stellung im Leben zu verschaffen und ich, der ich nicht einen Fuß breit festen
Boden unter den | mir habe, der ich momentan vollkommen von
der Hand in den Mund lebe, am meisten Ursache habe diesem Zustand ein Ende zu
machen.
Wenn Sie mir erlauben, die beiden Summenzusammen 600 Mark. Otto von Grote hat die Gesamtsumme in Briefen an Michael Georg Conrad später genannt, am 6.5.1897 – „Wedekind, der im vorigen Jahr für mein Geschenk von 600 Mk. nicht einmal ‚danke‘ sagte“ [Mü, MGC B 265] – sowie am 30. und 31.12.1898: „Wehkind (das Kind schuldet mir 600 Mk.) [...] die 600 Mk, um welche W. mich betrogen hat“ [Mü, MGC B 265]., die Sie mir
schicktenHinweis auf nicht überlieferte Schreiben; erschlossene Korrespondenzstücke: Otto von Grote an Wedekind, 28.5.1896 (neben dem zurückgesandten „Sonnenspectrum“-Manuskript wohl eine kleine Summe als Zuschuss zu dessen Druckkosten beigelegt) und 1.7.1896 (wohl definitiver und ausführlicher formulierter Arbeitsauftrag für das dann „Nirwana“ betitelte Libretto und beigelegtes Vorschusshonorar). als ein Darlehen auf den eventuellen Ertrag des Werkes hin zu
betrachten so ändert das an Ihren künstlerischen und menschenfreundlichen
Intentionen nichts, indem ich Ihnen nicht zumuthen kann, von vorn herein an
einen Ertrag zu glauben.
Für den ComponistenOtto von Grote hatte Anton Beer als Komponisten vorgeschlagen [vgl. Otto von Grote an Wedekind, 9.5.1896], dann standen Richard Strauss und Engelbert Humperdinck zur Debatte [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 1.8.1896], Wedekind schlägt im vorliegenden Brief schließlich seinen Freund Hans Richard Weinhöppel oder alternativ Richard Strauss vor. stellt sich die Sache anders. Um die
Oper zu Componiren würde er mindestens ein halbes Jahr brauchen.
Selbstverständlich habe ich mit Weinhöppel noch nichts positives abgemacht. Es
stehen | mir nun zwei Wege offen:
Entweder, Weinhöppel componirt die Oper, im Fall ich sehe,
daß er technisch was die Orchestration anbelangt, weit genug ist um sie
componiren zu können./,/ mit einem Wort, wenn mir
Richard StraußRichard Strauss war Kapellmeister am Münchner Hoftheater (Intendant: Ernst Possart) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1896, S. 436; Neuer Theater-Almanach 1897, S. 438]. dazu räth.
Oder Richard Strauß componirt die Oper. Da er einen Text
sucht, da er meine Arbeit schätzt und da ich seine Geistesrichtung kenne,
zweifle ich nicht daran daß es mir gelingen wird ihn dazu zu gewinnen. Dann
fallen jede weiteren Ausgaben weg; dann ist die Aufführung so gut wie
gesichert.
Das erstere wäre mir lieber auf Grund meines musikalischen
Ge|schmackes. Das zweite wäre in jeder Beziehung sicherer.
Im ersteren Falle können sich die Kosten für die Composition
auf Mkr 1200 belaufen. Da ich Weinhöppel nur dazu engagire wenn
mir Strauß dringend dazu räth, so möchte sich dann auch
die Aufführung leicht erzielenSchreibversehen, statt: erzielen. lassen. Da ich aber darüber noch nicht sicher
bin, bitte ich Sie, geehrter Herr Baron, sich noch nich entscheiden zu wollen,
bis ich Ihnen ein ganz positives Ergebniß mittheilen kann.
Ich kann mir nun selber nicht mehr verhehlen, daß der Plan
die Hülfe, die Sie mir in Aussicht stellten vielfach übersteigen würde. Wie ich
auf den Gedanken einer Oper | gekommen bin, weiß ich nicht. Als ich zu
schreiben anfing, dachte ich noch an ein Oratorium für den Concertsaal. Mit einem
derartigen Werke wäre freilich auf materiellen Erfolg gar nicht zu rechnen, da
die Concertmusik in Deutschland absolut frei ist.
Ich habe mir hier jetzt eine Theaterkritik verschaffteine Möglichkeit, Theaterkritiken zu publizieren. Wedekind war an „Mephisto. Wochen-Rundschau über das gesammte Münchener Theaterleben“ beteiligt, deren erstes Heft allerdings erst am 26.9.1896 erschien; auf der Titelseite ist vermerkt: „Herausgegeben und redigirt von Julius Schaumberger unter ständiger Mitwirkung von Max Halbe, Wilhelm Hegeler, Franz Held, Oscar Panizza, Georg Schaumberg, Frank Wedekind, Hans Richard u. A.“ [Mephisto, Jg. 1, Nr. 1, 26.9.1896, S. 1] Der zuletzt Genannte ist Hans Richard Weinhöppel. Das erste Heft [S. 4-5] enthält Wedekinds Artikel „Don Giovanni“ [vgl. KSA 5/III, S. 278], geschrieben anlässlich der Münchner Neuinszenierung von Mozarts Oper unter der Leitung von Richard Strauss am Königlichen Residenztheater (Premiere: 9.9.1896). um
Einfluß auf die Zustände zu bekommen. Mein „DramaturgDramaturg am Münchner Hoftheater (Intendant: Ernst Possart) war Dr. phil. Wilhelm Buchholz [vgl. Neuer Theater-Almanach 1896, S. 436]; ob er gemeint ist, bleibt unklar.“ hat derweil auch schon
einiges gewürkt. Die Leute haben sich wenigstens unter einander gestritten und
mich einen Unverschämten Kerl genannt. Das sind immerhin schon einige
Aussichten. Es geschah gele|gentlich eines sehr herzlichen Worteswahrscheinlich mündlich kolportiert. Richard Strauss hat sich demnach über die noch ungedruckte Komödie „Die junge Welt“ (1897), umgearbeitet aus dem Lustspiel „Kinder und Narren“ (1891), wohlwollend geäußert – „eine Abschrift der Neubearbeitung“ war „in Münchner Theaterkreisen in Umlauf gebracht worden“ [KSA 2, S. 630], wie der vorliegende Brief bezeugt, insbesondere am Münchner Hoftheater., das
Richard Strauß zu Gunsten meiner „Jungen Welt“ einlegte. Ich werde das Stück
sobald ich die Herren noch etwas ins Boxhorn gejagt, ruhig wieder einreichen.
Ich bin jetzt schon sicher, daß es jedenffalls mehr
Beachtung findet als das erste MalWedekind hat „Kinder und Narren“ (siehe oben) am 6.9.1890 an den Generalintendanten des Münchner Hoftheaters Karl von Perfall geschickt: „Manuskript I an Perfall geschickt.“ [Tb, Nachtrag; vgl. KSA 2, S. 637; vgl. Wedekind an Karl von Perfall, 6.9.1890]..
Es ist mir sehr schmerzlich zu hören, Herr Baron, daß Sie
sich körperlich nicht so gut befinden, wie ich es Ihnen innig, aufrichtig
wünsche. Von materiellen Medicamenten halte ich nicht viel, dagegen habe ich
geistige schon Wunder wirken sehen. Und eine Freude, eine Steigerung der
Lebensinteressen kann nicht anders als vortheilhaft wirken. Ich spreche nicht
von dem | Gegenstand dieses Briefes, aber ich darf mir schmeicheln, schon
geistig hochstehenden Menschen eine Erfrischung gewesenOtto von Grote bemerkte in seinem Brief an Michael Georg Conrad vom 9.9.1896, in dem er Wedekind als „Sänger des Bordells“ bezeichnete und dessen Alter „34 Jahre“ notierte, anzüglich: „Wedekind schrieb mir neulich, daß er mit Erfolg die Melancholie alter Männer bekämpft habe, – sollte er ihnen den Mastdarm gekitzelt haben?“ [Mü, MGC B 265] zu sein. Das läßt es
mich bedauern, daß ich sie Ihnen nicht sein kann. Ich bitte Sie, mir das nicht
als Überhebung auszulegen.
Heute Abend um 8 Uhram 8.8.1896 um 20 Uhr. Wedekind war unter der größeren Gruppe, die Oskar Panizza am Münchner Hauptbahnhof in Empfang nahm, entlassen aus der Haft in der Gefangenenanstalt Amberg, die er am 8.8.1895 angetreten hatte. Er war vom Königlichen Landgericht München wegen seines Buchs „Das Liebeskonzil. Eine Himmels-Tragödie in fünf Aufzügen“ (1894), erschienen im Verlags-Magazin (J. Schabelitz) in Zürich, zu einem Jahr Haft nach §166 des Reichsstrafgesetzbuches (‚Vergehen wider die Religion, verübt durch die Presse‘) verurteilt worden, ein Zensurskandal. Die Presse meldete: „Der Schriftsteller Dr. Oskar Panizza, welcher in Amberg eine einjährige Gefängnisstrafe wegen eines ‚Vergehens wider die Religion‘, das er in seinem Drama ‚Das Liebeskonzil‘ begangen haben soll, verbüßt hat, ist wieder hier eingetroffen.“ [Münchener Kunst- u. Theater-Anzeiger, Jg. 9, Nr. 3088, 13.8.1896, S. 1] „Schriftsteller Dr. Oskar Panizza hat die ihm seinerzeit vom hiesigen Schwurgerichte wegen Vergehens gegen die Religion zuerkannte einjährige Gefängnißstrafe verbüßt und ist hierher zurückgekehrt.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 49, Nr. 374, 13.8.1896, Morgenblatt, S. 2] kommt Panizza. Es wird sich eine
größere Sammlung zu seinem Empfang zusammenfinden. Seit acht Tagenseit dem 31.7.1896 (genau gerechnet). ist auch
Bierbaum hier, ebenfalls in musikdramatischen Geschäftennicht ermittelt; möglicherweise ging es um die spätere Oper „Lobetanz“ (uraufgeführt am 6.2.1898 am Hoftheater in Karlsruhe), deren Libretto Otto Julius Bierbaum geschrieben und im Vorjahr veröffentlicht hat [vgl. Otto Julius Bierbaum: Lobetanz. Ein Singspiel. Berlin 1895], die von Thomas Theodor Heine illustrierte „erste Buchveröffentlichung des Verlags ‚Pan‘“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 120, 25.5.1895, S. 2861], noch bevor Ludwig Thuille die Musik komponierte. „Das Singspiel ‚Lobetanz‘ von Otto Julius Bierbaum wird jetzt, wie der ‚B. C.‘ erfährt, von Professor Ludwig Thuille komponiert, und soll Ende des nächsten Sommers den Bühnen eingereicht werden.“ [Münchener Kunst- und Theater-Anzeiger, Jg. 9, Nr. 2888, 22.1.1896, S. 3], so daß das Leben an
Interesse bedeutend gewinnt.
Empfangen Sie, hochgeehrter Herr meine ergebensten Grüße.
Ihr
Frank Wedekind.