Paris 13.V.92.
Hochgeehrter Herr Doctor,
verzeihen Sie gütigst, daß ich Ihnen auf Ihre liebenswürdige
Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Michael Georg Conrad an Wedekind, 6.5.1892. heute erst antworte. Ein babylonisches UnwohlseinWedekind notierte am 6.5.1892, bei einem sexuellen Kontakt habe man ihn „mit Filzläusen beschenkt.“ [Tb], das mich unversehens
angefallen, mag mich vielleicht bis zu einem gewissen Grad entschuldigen.
Gestatten Sie | mir in erster Linie Ihre Frage zu beantworten. Frl Schäppi’s
Adresse lautet 40. Avenue des Ternes. Sie hat ihre ApartementsSchreibversehen, statt: Appartements. im
nämlichen HauseDie Malerin Sophie Schaeppi wohnte im selben Haus wie die Malerin Louise-Cathérine Breslau (Avenue des Terne 40) [vgl. Paris-Adresses 1893. S. 197], mit der sie befreundet war, ohne unter dieser Adresse, wo beide Künstlerinnen auch ihre Ateliers hatten, verzeichnet zu sein [vgl. Paris-Adresses 1893. S. 2450]. wie Frl Breslau und ich glaube voraussetzen zu können, daß
Ihnen die Räumlichkeiten bekanntMichael Georg Conrad hat von 1878 bis 1883 in Paris gelebt und dürfte das Atelier von Louise-Cathérine Breslau (siehe oben), die seit 1876 als Malerin in Paris ansässig war, gekannt haben. sind. Vor acht Tagenam 5.5.1892., gelegentlich einer ExcursionAusflug.
zeigte ich Frl Schäppi Ihre Carte. Sie war sehr erfreut, daß Sie sich ihrer
erinnern und bat | mich, Ihnen I/i/hre herzlichsten Grüße zu
übermitteln. Bei ihrem letzten kurzen Aufenthalte in München auf der Durchreise
nach Salzburg seien Sie nicht in München gewesen. Sie würde sonst nicht
verfehlt haben, Sie zu besuchen. Im Übrigen mag es Sie interessiren daß Frl. Schäppi
eine eifrige NietzschianerinSchreibversehen, statt: Nietzscheanerin (Anhängerin Friedrich Nietzsches). geworden. Ich war nicht wenig überrascht, sie bei
meinem ersten Besuch in ihrem Atelier | in eine ganze Nietzsche-Bibliothek
vertieft zu finden. Ob Nietzsche gerade der Mann dazu ist, das Banner des
reinen Naturalismus in der Seele des Weibes hochzuhalten, muß ich Ihrem
geschätzten Urtheile überlassen. Jedenfalls wird es Sie interessiren, Herr
Doctor, daß Nietzsche in ParisAnspielung auf die französische Nietzsche-Rezeption, insbesondere in Paris. Friedrich Nietzsches Werke wurden in Frankreich seit Beginn der 1890er Jahre zunächst in Zeitschriften, erst ab 1893 auch in Buchausgaben publiziert. mit jedem Tag an Boden gewinnt. Sein Fall WagnerFriedrich Nietzsches Schrift „Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem“ (1888), erschienen im Verlag von C. G. Neumann in Leipzig, eine grundsätzliche Kritik an der Kunst Richard Wagners.
war gelegentlichanlässlich. der LohengrinaffaireNach der Aufführung von Richard Wagners Oper „Lohengrin“ (1850) in Paris am 16.9.1891 kam es zu heftigen Protesten des Publikums und der Theaterkritik gegen ‚die Preußen in der Oper‘ (Henri Rochefort überschrieb seine Besprechung in der Pariser Tageszeitung „L’Intransigeant“ vom 17.9.1891 auf der Titelseite „Les Prussiens à l’Opéra“), die politisch motiviert waren [vgl. Jean-François Candoni: Lohengrin dans le Paris de années 1870 à 1891. Polémiques autour de „l’insulteur de la France“. In: Revue germanique internationale 36 (2022), S. 147-161 (https://journals.openedition.org/rgi/3424)]. in der französischen Über|setzungnicht ermittelt.
irgend einer Revüe eine gesuchte Lectüre. Noch vor wenigen Tagen kam ein junger
französischer Philosophnicht identifiziert. zu mir, um mich für einen Vortrag in der Sorbonne um
einige Notizen über Nietzsche zu bitten.
Frl Breslau hab ich noch immer nicht wieder gesehen. Sie ist
von einem herben Verlust heimgesucht worden. Sie haben ohne Zweifel Soninoder Hund von Louise-Cathérine Breslau, der auf mehreren ihrer Gemälde zu sehen ist. gekannt; wenn nicht, dann kennen sie ihn aus ihren
Bildern. Und Sonino ist nach langem | qualvollen Krankenlager
gestorben. Sämmtliche Thierärzte Frankreichs hatten sich umsonst um sein Leben
bemüthSchreibversehen, statt: bemüht.. Mit seinem Tode soll etwas in Frl. Breslau zusammengebrochen sein.
Richard Weinhöppel, oder Jean Richard(frz.) Hans Richard – die beiden Vornamen von Wedekinds Freund, der seit dem Frühjahr 1892 in Paris war. wie er
in Frankreich heißt, hat von Paris ohne Belagerung Besitz ergriffen. Ich führte
ihn nach Moulin Rouge und ins Casino | de Paris, wo
er nur bedauerte, daß sämmtliche Mädchen Französisch sprachen. Sein Mentornicht identifiziert. Hans Richard Weinhöppel, der in München vor allem Klavier und Gesang studiert hatte, bildete sich in Paris weiter zum Dirigenten und Musiklehrer.
hatte ihm zwar gesagt, daß er das zuverlässigste Wörterbuch in der Tasche habe,
indessen wagte er doch nicht, es so ohne Weiteres aufzuschlagen. Jetzt hat ihn
sein Mentor in der rue Provence einquartirt, in der richtigen
Voraussetzung, daß er sich die nöthigsten französischen Brocken dort am
raschesten aneignen werde. |
Und nun leben Sie wohl, lieber geehrter Doctor. Seien Sie
aufs herzlichste gegrüßt und verzeihen Sie die lange Versäumniß Ihrem Ihnen
stets ergebenen
Fr.
Wedekind.
4 rue
Crébillon.
[Kuvert:]
Allemagne.
Monsieur le
Docteur(frz.) Herr Doktor.
M. G.
Conrad
7. SteindorffstrasseDr. phil. Michael Georg Conrad, Schriftsteller und Herausgeber der Monatsschrift „Die Gesellschaft“, wohnte in München in der Steinsdorfstraße 7 (3. Stock rechts) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1892, Teil I, S. 59]. 7.
München.