Verehrter Herr Doctor!
erst jetzt erfahre ichWedekind hat am 6.1.1911 von dem spektakulären Vorfall mit Artur Landsbergers Gattin am 31.12.1908 in Berlin von seiner Frau erfahren, die wiederum von Elisabeth Steinrück darüber informiert worden ist: „Tilly besucht Frau Steinrück. Nachricht vom Sturz Dollys Landsbergers aus dem Fenster“ [Tb]. Dolly Landsberger (geb. Pinkuß), Tochter der Schriftstellerin Gertrud Wertheim (Pseudonym: Truth) aus erster Ehe (in zweiter Ehe nun mit Wolf Wertheim aus der Berliner Kaufhausdynastie verheiratet), hatte an Silvester im Hotel Esplanade durch einen Sprung aus dem Fenster einen Selbstmordversuch verübt – ein Gesellschaftsskandal (siehe unten). welch ein namenloses
Unglück über Ihre liebe schöne junge FrauDolly Landsbergers jugendliches Alter (am 11.11.1908 war sie 16 Jahre alt geworden) hob die Presse ebenso hervor wie den Altersunterschied zu ihrem Mann: Sie sei „16½ Jahre“ alt, die „junge Frau“ sei die „Gattin des 30 Jahre alten Dr. Artur Landsberger, des Herausgebers des ‚Morgen‘“ [Berliner Volks-Zeitung, Jg. 57, Nr. 2, 2.1.1909, Abend-Ausgabe, S. (3)]. In anderen Meldungen ist sie die „erst siebzehnjährige Frau Dolly L.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 38, Nr. 2, 2.1.1909, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (1)], in wieder anderen zutreffend die „eben erst sechzehn Jahre alte Gattin des früheren Herausgebers des ‚Morgen‘ Dr. Artur Landsberger“ [Neues Wiener Abendblatt, Jg. 43, Nr. 2, 2.1.1909, S. 3]. Der von Gerüchten, Mutmaßungen und Irrtümern getragenen Presseberichterstattung über den Gesellschaftsskandal ist zu entnehmen, dass Artur Landsberger „wegen Entführung einer Minderjährigen“ angeklagt werde, da er Dolly Pinkuß „geheiratet, nachdem er sie gegen den Willen ihrer Eltern heimlich entführt hatte“ [Strafverhandlung gegen Dr. Landsberger. In: Neues Wiener Journal, Jg. 17, Nr. 5470, 13.1.1909, S. 7] (Artur Landsberger wurde freigesprochen, es kam aber am 12.7.1909 in Berlin zur Scheidung der gerade erst geschlossenen Ehe). Wedekind dürfte von dem drohenden Prozess gegen Landsberger allerdings noch nichts gehört haben. und Sie hereingebrochen ist. Als Sie
mir telegraphischHinweis auf ein nicht überliefertes Telegramm; erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Landsberger an Wedekind, 3.11.1908. Das Telegramm war in London aufgegeben (siehe unten). Ihre VerlobungDie Verlobung war am 3.11.1908 angezeigt: „Verlobt. [...] Frl. Dolly Pincuß mit Hrn. Dr. Arthur Landsberger (Berlin).“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 517, 3.11.1908, Morgen-Ausgabe, S. 11] Artur Landsberger und Dolly Pinkuß haben sich in London verlobt (siehe unten). anzeigten, übersah ich darin den AufgabeortLondon. „Das Paar hatte sich vor einiger Zeit in London trauen lassen.“ [Berliner Volks-Zeitung, Jg. 57, Nr. 2, 2.1.1909, Abend-Ausgabe, S. (3)] Das war eine Falschmeldung; Artur Landsberger und Dolly Pinkuß haben dem Heiratsregister zufolge am 27.11.1908 in Berlin geheiratet – gegen den Willen der Eltern der Braut (insbesondere der Mutter). Das Paar ist nach London geflohen, um sich dort zu verloben.
und antworteteWedekinds Antwort ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Artur Landsberger, 3.11.1908. Wedekind schrieb seine Verlobungsglückwunsche an die ihm bekannte Adresse Artur Landsbergers in Berlin (Lennéstraße 3, 1. Stock). ohne die Ahnung von etwas außergewöhnlichem zu haben, nach
Berlin. Ich freue mich nur zu hören, daß Ihre Frau außer LebensgefahrDurch den Sturz aus dem 3. Stock des Hotels Esplanade brach sich Dolly Landsberger „beide Beine. Sie wurde in eine Klinik gebracht und ist anscheinend nicht lebensgefährlich verletzt.“ [Berliner Volks-Zeitung, Jg. 57, Nr. 2, 2.1.1909, Abend-Ausgabe, S. (3)] ist, aber
wie entsetzlich | müssen Sie beide gelitten haben und noch leiden. Wollen Sie
bitte von meiner Frau und mir den Ausdruck tiefsten aufrichtigsten
Mitempfindens entgegennehmen und Ihrer verehrten lieben Frau Gemahlin unsere
herzlichste Theilnahme übermitteln nebst den aufrichtigen Wünschen zu baldiger
glücklicher Genesung.
Mit besten Grüßen
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München 11.1.9.