Société du Musée
à
ZURICH
Museumsgesellschaft
in
ZÜRICH
Den 190
Mein lieber Frank!
Nachdem mein Briefvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 1.5.1908. nunmehr seit mehr als 10 Tagen unbeantwortet geblieben
ist, sind das die letzten Zeilen, die ich in meiner Angelegenheit an dich
richte.
Von nächstem Montagder 18.5.1908. an ist meines Bleibens nicht mehr
in Zürich, denn ich habe nicht im Sinne, dieser Stadt, die mich seit zwei Jahren als anständigen
Menschen gesehen hat, das Schauspiel eines Subsistenzlosen zu geben. Es bleiben
mir dann zwei Eventualitäten, entweder den besagten, letzten SchrittDonald Wedekind nahm sich am 5.6.1908 im Wiener Prater das Leben. zu tun,
was ich auch bei der äu|ßersten Notwendigkeit gerne hinausschieben möchte, um
unserer alten Mutter eine bittere Erinnerung auf dem Todtenbett zu ersparen,
oder, ich muß, wie die marokkanischen GesandtenAnspielung auf tagespolitische Ereignisse, in denen Donald Wedekind offenbar Analogien zu seiner Situation erblickte. Im Zuge der gewaltsamen Auseinandersetzung um das Sultanat in Marokko zwischen den Brüdern Abd al-Aziz und Mulai Abd al-Hafiz, die auch Einfluss auf die Unabhängigkeit Marokkos hatte, schickte Mulai Abd al-Hafiz Abgesandte unter anderem nach Berlin. Die Presse berichtete: „Die Unruhen in Marokko. Berlin, 13. Mai. Sp. Die Abgeordneten Muley Hafids erschienen heute im Auswärtigen Amte und wurden durch den Legationssekretär Freiherrn Langwerth von Simmern empfangen. Die Marokkaner überreichten ein Schreiben Muley Hafids und erklärten. daß Muley Hafid tatsächlich Herr des ganzen Landes mit Ausnahme der Küstenstädte sei, daß er aber außerdem nach dem Gutachten der Ulemas und auch auf Grund des Korans und der religiösen Rechtsgewohnheiten des Landes als der alleinige rechtmäßige Sultan von Marokko zu gelten habe. Muley Hafid sei gewillt, die Verträge, insbesondere auch die Generalakte von Algeciras zu halten und alle Mächte gleichmäßig zu behandeln. E[r] bitte eine kaiserliche Regierung, mit der französischen Regierung und mit den Regierungen der übrigen Signatarmächte in Verbindung zu treten, damit die französischen Truppen zurückgezogen werden. Er werde alsdann dem Wiederaufleben des Handels mit den Mächten seine ganz besondere Aufmerksamkeit zuwende.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 129, Nr. 134, 14.5.1908, 1. Morgenblatt, S. (2)], eine Rundreise an den europäischen
Höfen, das heißt bei Dir und Mieze antreten, um so durch persönliche Einwirkung
doch noch das zu erreichen, was Ihr mir auf die Entfernung versagen zu dürfen
glaubt. Es ist wahrhaftig nicht die Furcht vor der Not und vor Entbehrungen,
die mich an Eure Hülfe appellieren läßt, sondern viel eher die Angst, durch Not
und Entbehrungen zu etwas geführt zu werden, durch das mein Ruf, wie ich ihn
mir bis jetzt gut erhalten habe, geschädigt werden könnte. Ich will durchaus,
daß ich ehrlich sterbe, eine ehrliche Erinnerung hin|terlassend und das ist, so
meine ich, doch wahrhaftig auch in Euerm Interesse. Nun aber wieder zu Dir und
warum ich mich besonders an Dich wende.
Du weißt oder vermutest wenigstens, daß ich krank bin. Ist das nicht schon
Grund genug, daß Du das tun solltest, was ich Dir gegenüber, als Du in der
Vollkraft deines Lebens standst, so und so oft unaufgefordert getan habe. Und
verlangst Du wirklich vorerst aller/me/dicinische Belege, daß ich an
allerhand Alterszerrüttungen leide, die eine/de/n Genuß des Lebens zu einer recht
zweifelhaften Sache machen.
Also, ich hatte das Glück, einem kleinen Menschenkindenicht identifiziert.
das Unglück zuzufügen, es vom imminentendrohenden, nahe bevorstehenden. Tode zu erretten. Es war das vor zwei
Jahren, als ich | in der gewohnten, bitteren Not Baden verließ, um Zürich
aufzusuchen. Ich habe mich bis heute geweigert, einen materiellen Entgelt
entgegenzunehmen, erhalte ich aber bis Sonnabend Abendden 16.5.1908. von Dir nicht
irgendwelchen Bericht, so sehe ich mich gezwungen, den Credit dieses Mannesnicht identifiziert. in
Anspruch zu nehmen, um damit meine Reise nach Berlin anzutreten. Denn Du hast Verpflichtungen
mir gegenüber, Du solltest mich verstehen, von Mieze kann ich das weniger mehr
verlangen, erstens weil sie meine Hülfe nie beansprucht und zweitens, weil sie
nicht freie Handlungsweise hat.
Das sind, wie ich einleitend schrieb, die letzten
Worte, dichSchreibversehen, statt: die. ich an Dich richte. Ich habe auch noch andere Gründe Berlin
nochmals, wenn auch nur für | wenige Stunden aufzusuchen. Und damit lebe wohl –
wenn es dir möglich ist. Dein Bruder
Donald
Zürich, 41.
Bolleÿstraße
am 14. Mai 1908