Mein lieber Frank!
Als ich vor einigen Wochen meine erfolglosen Zeilenvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.12.1907. an Dich
richtete, mußte ich wohl eine Ahnung von einem wirklichen, kommenden Unglück
gehabt haben. Aus beiliegendem SchreibenDas beigelegte Kündigungsschreiben ist nicht überliefert; wie aus späterer Korrespondenz hervorgeht [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 1.5.1908] war Donald Wedekind bei dem von der Verkehrskommission Zürich herausgegebenen, wöchentlich erscheinenden „Zürcher Theater-, Konzert- und Fremdenblatt“ beschäftigt, wo er sich zwei Jahre zuvor beworben hatte [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 10.4.1906]. wirst Du ersehen, daß mir meine
Stellung gekündigt wurde, ohne mein Verschulden, ohne daß man mir vorwerfen
kann, daß ich meine Pflicht | nicht erfüllt hätte. Dieser Katastrophe bedurfte
es noch, um meinen seelischen und körperlichen Zustand derartig zu compliziren,
daß ich mich meiner Lage nicht mehr gewachsen fühle und ohne äußere Hülfe ein
schlechtes Ende unvermeidlich vor Augen sehe. Willst Du mir nicht helfen?
Als ich nach Weihnachten vergeblich auf deine Antwort
warteteAnscheinend hatte Donald Wedekind eine Geldsendung über 100 Mark, die Frank Wedekind ihm mangels einer aktuellen Adresse in Zürich über Armin Wedekind zukommen lassen wollte [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 23.12.1907], nicht erhalten., wandte ich
mich an Walther Oschwald, und Mieze ließ mir dann auch durch ihn eine Summe zukommen,
| die gerade reichte, um einigen dringenden Verpflichtungen zu genügen,
außerdem nahm ich die Gelegenheit wahr, mir ein möblirtes Zimmer zu nehmen,
dessen Ruhe und Comfort meinen gereizten NervenAnspielung auf die zeitgenössische Modediagnose Neurasthenie. zu Gute kommen sollten. Das
Gegenteil ist der Fall und ich wohne noch schlechter und unleidlicher als
zuvor. Das liegt nun mehr in mir als in der Außenwelt, immerhin sehe ich kein
Mittel mehr, das Leben auf diese Weise wei|ter zu ertragen, und einzig und
allein ein längerer Landaufenthalt vermöchte meinem subjectiven Empfinden nach
mein seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen. Aber wie das machen, jetzt,
da ich gerade froh sein muß, für einige Wochen noch ein Obdach über dem Haupt
zu haben.
Lieber Frank, bei dem Lebensgang, wie Du ihn selbst
teilweise hinter Dir hast, ist es überflüssig, daß ich Dir weiter noch meinen
Zustand schildere. | Ich bin gerne bereit, wenn Du mir die nötigen Mittel dazu
schickst, das zu tun, was Du mir vor zwei Jahren anrietst, nämlich zu einem
Arzt zu gehen und mich auf meinen Zustand untersuchen zu lassen. Das ist aber
von zweiter Bedeutung, die Hauptsache ist, daß ich wieder in eine Stellung
komme, die mir mein Leben sichert und zwar in reichlicherer Form und nicht unter so unglücklichen
Begleitumständen wie das bei meiner bisherigen Anstellung der | Fall war.
Kannst Du da nicht etwas tun? Diese Sache hier war Flickwerk, ich hatte den
besten Willen, etwas daraus zu machen, es war mir aber nach Aufwand meiner
besten Kräfte nicht möglich. Nun ist der Abschluß ganz von selbst gekommen.
Vielleicht doch noch zum Guten.
Lieber Frank, ich weiß, daß ich dich vor zwei Jahren
beleidigt habe, ich muß aber auch vermuten, daß meine exponirteungeschützte, ausgesetzte. Lage als
mildernder | Umstand gelten mag, und ich bitte Dich hiemit um Verzeihung für
das, was ich damals geschriebenvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 27.3.1906.. Anderseits empfinde ich, als ob Du ein solches Pater peccavi(lat.) Vater, ich habe gesündigt! Bibelzitat nach Lukas 15,18: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.“ selbst nicht verlangst, und ich
kann mir nicht denken, daß man einen um eines Wortes willen zeitlebens aus
seinem Ideen- und Empfindungskreis ausschaltet. Ist es wirklich nicht möglich,
daß sich mein Leben noch richtig gestaltet, so wird hiein diesem Fall. die Natur selbst eines
Tages versagen, und hätten | mir die zwei Jahre redlicher Arbeit nicht die
Hoffnung gegeben, daß doch noch Alles gut werden kann, wahrlich, ich würde mich
nicht an Dich gewandt haben. Aber mir lassen meine Geistes- und
Körperverfassung Kämpfe, wie Du und ich sie zusa/frü/her wohl zusammen
durchgefochten, nicht mehr zu und bei einer Perspektive, wie sie mir
beiliegende Mitteilung eröffnet, greift man wohl zu den äußersten Mitteln, die
einigermaßen die Unsicherheit der Lage mildern könn|ten. Daß dieser neue, zu
einem schon seit Monaten dauernden, körperlichen Unwohlbefinden hinzugekommene Unglücksumstand Deinem
Verhalten eine Wendung geben möge, daß ich Dir, wenn Du mich in die Lage
versetzen willst, einige Wochen den nötigen Landaufenthalt zu nehmen, bald eine
Wendung zum Besseren wenigstens ein/m/einem/s/ seelischen und
körperlichen Zustandes melden kann, daß es mir allein oder unter Deiner
Beihülfe gelingen werde, auf | den kritischen Zeitpunkt hin einen andern,
womöglich besseren Lebensunterhalt zu finden, das hofft von ganzem Herzen dein
treuer Bruder
Donald
Zürich, d. 25. Jan.
1908
17. Mythenstraße