[1. Abschrift:]
Sehr verehrter Herr Herzog,
empfangen Sie meinen aufrichtigen DankMit dem vorliegenden Brief, in dem Wedekind sich für einen Artikel bedankt (siehe unten), nahm er den Kontakt zu Wilhelm Herzog auf, den er offenbar noch nicht persönlich kennengelernt hatte (siehe unten) und der über diesen Brief und seinen Artikel am 3.1.1910 aus Berlin an Heinrich Mann schrieb: „Von Wedekind bekam ich auf meinen Goldmann-Artikel hin einen reizenden, in seiner Naivität amusanten Brief.“ [PNP 0604] für die hohe
WürdigungWilhelm Herzog hat gegen Ende eines Artikels über den Kritiker Paul Goldmann dessen Ablehnung Wedekinds kritisiert: „Goldmann ist ohne Humor auf die Welt gekommen. Und dennoch: durch eisernen Fleiß, durch seine und seiner Leser unermüdliche Ausdauer, hat er es fertig gebracht, eine Reihe humoristischer Artikel zu schreiben. Keiner aber ist so komisch, so zwerchfellerschütternd wie der über Wedekinds ‚Frühlings Erwachen‘. / In dem Vorwort zu seinem letzten Buch widmet er dem ‚Wedekind-Kultus‘ einige Seiten. Es regnet Entrüstungen und Proteste. Goldmann trieft vor Sittlichkeit. Er macht dem Philister Angst. ‚Frank Wedekind behandelt mit Vorliebe erotische Sujets.‘ Pfui, Wedekind! ‚Erotisch ist wohl‘, fährt er fort, ‚wenn man von Frank Wedekinds Oeuvre spricht, ein gar zu milder Ausdruck. Die schlimmsten Ausartungen der Erotik, der schamlose Zynismus der Dirne, die Perversität in allen ihren Formen, Päderastie, Lesbismus, Sadismus, das sind seine Stoffe. Dieser deutsche Dichter hat uns in einem anderen Drama masturbierende Kinder gezeigt, und Kinder (Kinder!), welche den Beischlaf vollziehen. Dieser deutsche Dichter hat in einem dritten Drama den Lustmord behandelt. Dieser deutsche Dichter hat neuestens ein Drama über die Abtreibung geschrieben – das einzige, das in diesem duftenden Kranz poetischer Blüten noch gefehlt hat.‘ / Kann man einen Kritiker ernst nehmen, der sich so leichtfertig entrüstet, der einen so komplizierten und leidenschaftlichen Geist wie Wedekind auf so nichtssagende Formeln zu bringen sucht, der sich gegen Wedekind einen solchen Ton anmaßt, während er zur selben Zeit Sudermann schätzt“ [Wilhelm Herzog: Paul Goldmann, der klare Kopf oder Die Kritik der reinen Vernunft. In: Die Schaubühne, Jg. 5, Nr. 45, 4.11.1909, S. 483-490, hier S. 489]., die Sie mir in Ihrem Aufsatz in der „Schaubühne“ zuteil werden
lassen. Ich hätte Sie hierin München. Wilhelm Herzog hatte von 1906 bis 1909 in München gewohnt, dann (nach Aufenthalten in Berlin und Paris) wieder ab Herbst 1912 [vgl. Müller-Feyen 1996, S. 20, 44]. aufgesucht, erfahre aber zu meinem Bedauern, dass Sie
nach Berlin übergesiedeltWilhelm Herzog ist im Herbst 1909 von München nach Berlin umgezogen – erste Adresse: Uhlandstraße 44 (seiner Korrespondenz mit Heinrich Mann zufolge) – und wohnte dann in Wilmersdorf (Johann Georg-Straße 7, Gartenhaus) [vgl. Berliner Adreßbuch 1911, Teil I, S. 1096]. sind. Wenn Sie wieder nach München kommen, dann bitte
ich Sie mich zu besuchenWilhelm Herzog besuchte Wedekind, als er in München war – so dem Tagebuch zufolge am 23.1.1910 („Vor dem Abendessen kommt Wilhelm Herzog“), 22.2.1910 („Vor dem Abendessen kommt Wilhelm Herzog“) und 23.2.1910 („Zum Thee kommt Wilh. Herzog“). Wilhelm Herzog notierte zu der Begegnung am 22.2.1910 ausführlicher: „Autofahrt nach München. Zu Wedekind. [...] Ins Stepanie. Dr. Löbel. Mit ihm im Auto zu Wedekind. Sehr liebenswürdig. Bis 8½. Dann auf Abend verabredet. 11 h Torggelstube. [...] In der Torggelstube: W., seine Frau, Frau Langheinrich. Eine Stimmung mit allzu heftigen Kurven [...]. Über Thomas u. H. Mann, über Bahrs Konzert. W. schimpft auf eine etwas triviale Art auf Berlin. [...] Sekt trinken. Als ich von den 2 Flaschen eine bezahlen will, steht er entrüstet auf u. sagt: ‚Wir haben doch Geschäfte miteinander‘ – unverständlich, blödsinnig, – er kann auch gesagt haben: ‚Wir haben keine Geschäfte miteinander.‘ Gut. Schön. Ich ließ ihn zahlen. Unsympathische Manier jedoch. Tilly, das Kind, schweigt und ist beharrlich verliebt in ihn.“ [Tb Herzog] Und zum Besuch am 23.2.1910 um 17 Uhr: „Um 5 h mit dem Wagen [...] in die Prinzregenstenstr. 50. Zu W. Thee. Sehr liebenswürdig.“ [Tb Herzog]. Ebenso würde es mich freuen, wenn wir uns in Berlin
kennen lernenWedekind lernte Wilhelm Herzog Anfang 1910 bei dessen Besuchen (siehe oben) in München kennen; eine persönliche Begegnung ist davor durch Wedekinds Tagebuch nicht belegt (auch nicht durch Herzogs Tagebuch), hat aber möglicherweise stattgefunden: „Zwischen Herzog und Wedekind bestand bereits seit 1907 eine freundschaftliche Beziehung, die bis zum Tod Wedekinds 1918 andauerte.“ [Müller-Feyen 1996, S. 20] Wilhelm Herzog hat Wedekind allerdings in der Tat schon Jahre zuvor zur Kenntnis genommen; so notierte er am 23.9.1904 in Berlin den nochmaligen Besuch einer „Erdgeist“-Vorstellung (Wedekind auf der Bühne sprach den Prolog): „Frank Wedekinds ‚Erdgeist‘ im Neuen Theater. Fr. Wedekind aus München spricht als Stallmeister seiner Menagerie (Personen seiner Tragödie) den Prolog. Pathetisch, bajuvarisch, immer die letzten Silben betonend u. das so viermal schnarrend. Er macht das alles sehr schön! Er schimpft auf den Pöbel, der vor ihm sitzt; der Pöbel klatscht ihm Beifall! Gertrud Eysoldt als Lulu, Eva, Mignon, Nelly leistet das Höchste, was zu leisten ist. Sie ist noch um einige Nuancen reifer geworden! Schamlos ist sie in ihrer Nacktheit. Doch da sie wirklich keine weiblichen Reize hat, kann sie das Rien zeigen. Steinrück als Dr. Schön hatte nicht eine Spur von Reichers damaliger Größe und Schärfe. Er war schlaff und geistlos. Kayßler spielte den Prinzen fein und diskret, weit besser als der erste Darsteller dieser Rolle.“ [Tb Herzog] würden.
Mit ergebensten Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
9.11.9.
[2. Erstdruck:]
München, Prinzregentenstr. 50
9.11.09.
Sehr verehrter Herr Herzog,
empfangen Sie meinen aufrichtigsten Dank für die hohe
Würdigung, die Sie mir mit Ihrem Aufsatz in der „Schaubühne“ zuteil werden
lassen. Ich hätte Sie hier aufgesucht, erfahre aber zu meinem Bedauern, daß Sie
nach Berlin übergesiedelt sind. Wenn Sie wieder nach München kommen, dann bitte
ich Sie mich zu besuchen. Ebenso würde es mich freuen, wenn wir uns in Berlin
kennen lernen würden.
Mit ergebensten Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
Im Erstdruck (in Wilhelm Herzogs „Das Forum“) steht das Datum im Briefkopf unter der Absenderadresse „München, Prinzregentenstr. 50“ [so auch im späteren Druck; vgl. Herzog 1959, S. 206], die in der Abschrift fehlt.