Kennung: 1107

Rom, 15. März 1905 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Weinhöppel, Hans Richard

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Rom, 15.III 1905


Lieber Frank

Deine Zeilenvgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 8.3.1905. haben mich in doppelte Verlegenheit gebracht: Einmal, weil ich Deine Erörterungen in puncto Freundschaftdie zerrüttete Freundschaft betreffend, die Wedekind in ihrer früheren Qualität zu erneuern hoffte [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 8.3.1905]. Spannungen zwischen den Freunden waren zwei Jahre zuvor eingetreten [vgl. Wedekind an Max Halbe, 30.5.1903], Konflikte noch während der Zeit der Elf Scharfrichter (das Kabarett löste sich im Frühjahr 1904 auf), deren Hauskomponist und musikalischer Leiter Hans Richard Weinhöppel war [vgl. Kemp 2017, Anhang Ensemble, S. 41]. nicht in der Weise erwidern kann, wie ich gerne möchte, – denn ich bin krank, sehr krank, 2.) weil ich Dir betreff der „BucolicaWedekind hatte den Freund um die Zusendung seines 1881 entstandenen Manuskripts „Bucolica“ [vgl. KSA 1/II, S. 1547] gebeten [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 8.3.1905], „eine Reihe bukolischer Verse“ [KSA 1/II, S. 1538], die „Wedekind im November 1898 seinem Freund Richard Weinhöppel überließ und die dieser verlor“ [KSA 1/II, S. 1538]. Im Erstdruck des Fragments „Felix und Galathea“ (1908) erklärte Wedekind in der Vorbemerkung: „Das Heft, in dem das ganze Schäfergedicht enthalten war, hat in späteren Zeiten einmal ein Freund in Verwahrung genommen und verloren.“ [KSA 1/I, S. 566] In einer handschriftlichen Fassung der Vorbemerkung heißt es: „Das Heft [...] hat in gefahrvolleren Zeiten einmal ein Freund in Verwahrung genommen und als er selbst in Gefahr schwebte verloren.“ [KSA 1/II, S. 1545] Das war nach Wedekinds Flucht aus München am 30.10.1898 infolge des Haftbefehls wegen Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre, wie der Hinweis auf Frida Strindberg (siehe unten) bestätigt. für den Augenblick keine befriedigende Nachricht | geben kann. Ich habe nämlich meine Sachen nicht alle nach Italien mitgenommen, in der Hoffnung, bald wieder nach M. zurückkehrenHans Richard Weinhöppel war am 19.5.1905 zurück in München, wie Max Halbe notierte (er war mit ihm, Marc Henry, Marya Delvard, Eduard von Keyserling, Carl Rößler und Richard Du Moulin-Eckart im Hoftheater-Restaurant): „Richard aus Rom zurück. Bin abends mit ihm, Henry, M. Delvard, Keys., Ressner, Du Moulin i. H.R. zusammen.“ [Tb Halbe] Er hat ihn am 21.5.1905 besucht: „Abends kommt Richard.“ [Tb Halbe] Wedekind hat am 23.5.1905 die noch mit seinem Freund verheiratete Frau besucht: „Besuch bei Stella Weinhöppel. Sie zeigt mir Briefe von Richard über mich.“ [Tb] Den Freund traf er eher zufällig am 24.5.1905 – „Mittags treffe ich Weinhöppel und Muri bei Tisch“ [Tb] – und am 25.5.1905 nach einem erneuten Besuch bei der Gattin: „Nachmittags Kaffee bei Stella Weinhöppel. Abend treffe ich Weinhöppel Muri und Reßner in der Torggelstube.“ [Tb zu können. Nun ist die Zahl meiner Manuscripte u. ähnlicher chosen eine so ungeheuer große, daß ein fremder sich nie u. nimmer darin zurecht finden würde.

Ich weiß, daß ich ein solches (blaues) Büchlein hatte u. oft mit Interesse las, aber ich kann nicht schwören, ob nicht sei|nerzeit Frieda St.Frida Strindberg hatte sich nach Wedekinds Flucht aus München nach Zürich (siehe oben) um die Nachsendung der in München verbliebenen Habe Wedekinds in die Schweiz gekümmert [vgl. Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 20.7.1899]. dasselbe zugleich mit meinen kleinen novellistischen Skizzennicht ermittelt; es handelte sich um „Erzählungen“ [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 22.5.1899] von Wedekinds Freund, die verschollen sind. mitnahm. Ich mag mich sehr irren: gleichviel, – wenn sie es nicht hat, ist es wolbehalten in meinem Besitz, u. d/D/u bekommst es so bald wie nur irgend möglich. Ich hoffe nur, daß die Sache nicht allzusehr eilt, – es wäre mir furchtbar leid, Dir nicht sofort geben zu können, wozu ich ja verpflichtet bin. – –

Ganz ohne Zögern gestehe ich, daß die Lücke, D/d/ie Du in meinem Leben gelassen noch nicht | ausgefüllt ist u. auch wol nie auszufüllen sein wird. D.h. ich könnte den Begriff „eine Lücke lassen“ eigentlich sehr anzweifeln, denn – offen gestanden, – rechne ich mit Deiner Individualität, Deinem Künstlertum genau so, als ob wir persönlichen Contact hätten. Es ist also eigentlich mehr eine Lücke am Biertisch, was allerdings für manche identisch ist mit Todfeindschaft oder, – wenn es nur die Verhältnisse sind, – mit ewiglicher sentimentaler Trauer. – Den persönlichen Contact mit Dir vermißte | ich weniger von dem Tage an, wo Du mich in den Staub der Alltäglichkeit herabzogst, u. mit mir zu experimentieren wagtest, genau, wie mit einem HenryMarc Henry, Direktor der Elf Scharfrichter [vgl. Kemp 2017, Anhang Ensemble, S. 20]., einem LautensackHeinrich Lautensack, Sekretär der Elf Scharfrichter und „Henkersknecht“ [Kemp 2017, Anhang Ensemble, S. 30].! Meine Natur ist eine stolze, leidenschaftliche, u. vergißt eine Entwürdigung nicht so leicht. – Wohlan, laß jeden in seiner Façon selig werden, – oder zum Teufel gehen, – aber wir brauchen doch schließlich nicht auf Schritt und Tritt mitzugehen, weil wir „Freunde“ sind.

Ich bin vielleicht verdammt wenig, – so im | großen Ganzen, – aber für mich bin ich ein Künstler, u. vor allem ein Lebenskünstler. Ich genieße, selbst im Leib/d/en. Es ist nun für mich eine schwere, ernste Lebensfrage, ob derjenige, der meine Gefährte sein soll, – sei er sonst, wie er mag, – in sich keine Qualitäten und Gewohnheiten besitzt, die sich zu meinem Künstlerleben contrair verhalten.

Ich habe Dir einmal auf der Kegelbahnbei Treffen der Unterströmung, Max Halbes Kegelrunde, die sich über viele Jahre in einem Münchner Lokal (Türkenstraße 33) in unmittelbarer Nähe zur Spielstätte der Elf Scharfrichter (Türkenstraße 28) traf [vgl. Kemp 2017, S. 29]. irgend einen Vorwurf gemacht, Indiscretion betreffend; – darauf antwor|tetest Du ungefähr: „Sieh, lieber Richard, – Discretion ist doch dasjenige im Leben, womit man am wenigsten rechnen darf[“], – u. – Du hattest leider sehr Recht, besonders, was Deine Person betrifft.

Das aber paßte mir nicht.

Ich will nicht zum Spielzeug einer Zunge werden, (wenigstens keiner männlichen) – ich will nicht, was ich in stiller Plauderstunde als künstlerisches Geheimnis dem Freunde mitgeteilt habe, am nächsten Tage mit trivialen Worten breitge|treten haben, – weil eben jener Freund – keine Discrez/t/ion kennt! Ich kann ihn nicht dazu zwingen zu schweigen, – aber ich kann selbst schweigen. Ich habe geschwiegen, allerdings etwas spät.

Wenn aber einer mein ihm anvertrautes Gedanken- und Empfindungsleben, oder gar irgendwelche erotische Ereignisse, anderen preisgiebt, so will ich wenigstens den Rücken kehren. – Ein Verkehrsfreund aber kann derjenige, der mich wider meinen Wunsch preisgiebt, doch nie und nimmer sein.

Meine Auseinandersetzungen sind wol nicht so complet, wie ich wünschte, doch solltest Du wenigstens ein ungefähres Bild von meinem jetzigen Menschen haben.

Es grüßt Dich herzlich
Hans Richard

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13 x 17 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Rom
    15. März 1905 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    Rom
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 180
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Hans Richard Weinhöppel an Frank Wedekind, 15.3.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

04.10.2024 15:33