Schöneberg b/Berlin, d. 25.V.04
86. Hauptstraße
Lieber Frank!
Ich danke dir für deine Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 16.4.1904. von vor ungefähr vier
Wochen recht herzlich. Wie du aus diesem meinem Lebenszeichen ersehen kannst,
habe ich die letzte Klippe ohne verwandtschaftliche Hülfe glücklich umsegelt,
aber der Verlegenheiten sind neue gekommen oder vielmehr die alten beginnen wieder bedrohlich zu
werden, weshalb ich an Mieze, respektive an Walther Oschwald schriebDas Schreiben Donald Wedekinds an seine Schwester Erika und seinen Schwager Walter Oschwald in Dresden ist nicht überliefert., | er möge
mir die Summe von 300 Mark verschaffen.
Bekomme ich dieses Geld nicht, so bin ich am 1. Juni
nicht nur obdachlos, sondern ich verliere mein sämmtliches Eigentum, das, so wenig es bedeutet,
doch einen Aufwand von einigen hundert Mark gekostet hat. Mein ArbeitsprogrammDonald Wedekind arbeitete an seinem zweiten Roman „Berlin“ [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 11.4.1904 und 2.2.1908].,
von dem ich einen Teil schon erledigt, müßte ich im Stich lassen, der Sommer
würde auf Irrfahrten, das täglich Notwendige zu finden, vergeudet und was am Schlimmsten wäre, ich
würde unter dem Allem voraussichtlich so zu leiden haben, daß mir das
Krankenhaus | die Lösung bringen könnte. Ich war krank und bin noch merklich
angegriffen und fühle es, daß ich dieses Leben der dauernden Unsicherheit nur
schwer mehr ertrage.
Das habe ich Alles Herrn Oschwald geschrieben, nachdem
ich mich zwei Mal vorher an Armin gewandtÜberliefert ist ein Brief Donald Wedekinds an seinen Bruder Armin vom 22.4.1904, in dem es heißt: „so befinde ich mich augenblicklich wieder in einer jener Lagen, die nicht dazu dienen, unsere Einwurzelung in dieses materielle Leben zu fördern, wohl aber uns die Vergänglichkeit alles dessen, wonach wir kraft unseres physischen Bedingungen unterworfenen körperlichen Daseins streben müssen, zu zeigen und uns schließlich das Ende, das mit seiner demokratischen Gerechtigkeit für Alle kommt, zu erleichtern. Ich bedarf für den ersten Mai eines Zuschusses. […] Deshalb möchte ich Dich bitten, ob Du mir für das bezeichnete Datum die Summe von 150. Mark auf schwesterliche Hilfsbereitschaft hin verschaffen kannst. […] respektive ich bitte Dich, Mieze zu veranlassen, mir darüber hinweg zu helfen.“ [AfM Zürich, Nachlass Armin Wedekind, PN 169.2:1263] habe, mit der Bitte um seine
Vermittlung und Armin rätselhafter Weise meine Zeilen einfach unbeantwortet
ließ. Vielleicht s/b/ist du in der Lage, lieber Frank, an Mieze oder
Walther einige Worte zu richten, sei es, ich bitte dich darum, insofern du
nämlich die Empfindung hast, daß es mir zum Guten gereicht. Denn es wäre ja
möglich, daß | dasjenige, was ich will und dasjenige, was ich seit dem Tage
meiner Geburt verkörpere, das Schlechte ist (kein Mensch kann selber darüber
richten, es bleibt der Welt vorbehalten, das Urteil zu fällen) und in diesem Fall, wenn sich mein Sein und mein
Wollen tatsächlich nicht mit den Grundprincipien dieses Weltbestandes
vertrügen, wäre es ja allerdings direkt ein Irrtum meinem Wohl gegenüber, nur
durch materielle Hülfe das Leben zu verlängern. Daß ich diese Auffassung aber nicht haben kann, ist
dir wohl begreiflich.
Also ich wiederhole, wenn mir auf den e/1/.
Juni nicht Hülfe wird, | so geht/wird/, statt daß ich diesen Herbst mit
zwei neuen Arbeitsleistungen vor meine Umgebung hätte treten können, mein
bischen Basis ganz in die Brüche gehen und der Termin, das fühle ich, wird nicht mehr einzuholen
sein. Und das ist, was mir am meisten leid tut, daß ich die Arbeit, die ich
gerne noch leisten würde, nicht mehr werde verrichten können. Was die
Gesundheit anbetrifft, so denkt der kranke Mensch gewöhnlich nicht mehr viel an
die gesunden Tage zurück, aber, auch darin wirst du mir doch zwei|felsohne
Recht geben, es ist vom rein ökonomischen Standpunkt aus schon besser, man
fördert freiwillig den Menschen in seiner Kraft als daß man durch die Civilgesetze gezwungenDas Bürgerliche Gesetzbuch sah vor: „§ 1610. Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren.“ Geschwister waren dabei „mit Rücksicht auf die öffentliche Armenpflege […] jedoch nur zur Gewährung des nothdürftigen Unterhalts verpflichtet“ [Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuche für das deutsche Reich nebst Einführungsgesetz. Hg. v. Julius v. Staudinger. 4. Bd. Familienrecht. München 1899, S. 382].
einen Gebrochenen unterhält.
Damit bin ich, lieber Frank, nochmals die Bitte
aussprechend, in diesem Sinne vielleicht durch ein paar Zeilen mein Gesuch bei
Mieze zu unterstützen,
dein treuer Bruder
Donald
P. S. Fräulein Margarete
PechyDie Schauspielerin Margarete Pechy war Rezitatorin in Ernst von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 263] und findet sich dann als freie Künstlerin in diversen Programmen – so trat „Margarete Pechy“ am 24.3.1903 bei einem „Cabaretabend vor geladenem Publikum“ auf; das Programm hieß „Verbotene Früchte“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 140, 18.3.1903, Morgen-Ausgabe, S. (3)]., Bismarkstraße No 19, Charlottenburg,
bittet mich, mich bei dir doch zu verwenden, daß du ihr ein Gedicht zum Vortrag
schickst. Was meine Angelegenheit anbetrifft, so bitte ich dich, wenn du etwas tun
kannst, schnell zu handeln, denn es ist Mattei am letztendas Ende der Welt, das Ende aller Tage; Redewendung nach dem letzten Satz in Matthäus 28,20: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ .