Paris, 10.I.1899.
Lieber Freund,
wenn Du wüßtest, wie wir Dich hierhersehnennach Paris. Wedekind ist am 22.12.1898 von Zürich nach Paris abgereist [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.1.1899]., BazalqetteLéon Bazalgette, Schriftsteller und Publizist in Paris, der Wedekind schon seit Jahren ein Begriff war [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 8.8.1894].,
PanizzaOskar Panizza, mit dem Wedekind in Zürich oft zusammenkam [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 29.11.1898], war seit Ende des Vorjahres in Paris; seine Adresse ist der von ihm in Zürich herausgegebenen Zeitschrift zu entnehmen, die er in Paris fortführte: „Paris, rue des Abbesses, 13. [...] Oskar Panizza.“ [Zürcher Diskußionen, Jg. 1 (1897/98), Nr. 12, S. 11] und ich. Panizza schleppe ich mit übermenschlicher Anstrengung an die
Orte unserer einstigen ThätigkeitLokale in Paris, die Wedekind und sein Freund während ihres gemeinsamen Aufenthalts in der Stadt im Frühjahr und Sommer 1892 aufgesucht hatten [vgl. Tb]. und erzähle ihm dort von Deinen Triumphen.
Ueber die Neujahrskartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel, Anton Dreßler, Lotte Dreßler, Max Halbe, Georg Schaumberg, Julius Schaumberger an Wedekind, 1.1.1899. Der Name der Mitunterzeichnerin der Neujahrskarte ist im Erstdruck ausgelassen, die Mitunterzeichner sind unten im Brief namentlich genannt. habe ich mich herzlich gefreut, auch weil der Name ...Auslassung des Herausgebers im Erstdruck des Briefs; möglicherweise stand der Name Lotte Dreßler im Brief, da Wedekind unter den am Briefende genannten Unterzeichnern der Neujahrskarte ihren Mann Anton Dreßler aufführte, er früher vermittelt über den Freund mit ihr korrespondiert hat [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 1.4.1897] und er ihr auch später nach einer von ihr unterschriebenen Bildpostkarte Grüße bestellte [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 27.7.1899].
daraufstand. Wenn Du sie siehst, sag ihr bitte meine herzlichsten Grüße und ob
es nicht möglich wäre, ihr ein offenes Wort zu schreiben, das sich keiner
Zollrevision zu unterziehen braucht. Vielleicht hat sie irgend eine
zuverlässige Freundin.
Wie geht es Dir? Dein letzter Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 20.12.1898. Wedekind hat den Brief noch in Zürich erhalten, also vor dem 22.12.1898 (siehe oben)., den ich in Zürich
erhielt, strahlte von Lebensfreude. Sollte sich aber der Himmel in München
trüben, dann komme hierher, mit oder ohne SchülerinnenWedekinds Freund Hans Richard Weinhöppel ist als Kapellmeister und Gesangspädagoge in München (Corneliusstraße 4, 1. Stock) [vgl. Adreßbuch von München auf das Jahr 1899, Teil II, S. 113] verzeichnet und gab privaten Musikunterricht.. Im schlimmsten Fall
würdest Du ja auch hier welche finden, die besser bezahlen als die
Münchnerinnen. Immerhin habe ich den Eindruck, daß sich Paris jetzt leichter
erobern ließe als vor 6 Jahren1892 während Wedekinds und Hans Richard Weinhöppels gemeinsamen Aufenthalt in Paris [vgl. Tb]., für Dich vielleicht noch leichter als für mich.
Wie ich geistig aufgeathmet habe vom ersten Schritt an, den ich auf Pariser
Pflaster that, kann ich Dir nicht beschreiben. Meine erste Bekanntschaft war der
Sohn des Impresarios der PattiDer in Paris tätige Impresario Robert Strakosch war der Sohn des am 10.10.1887 in Paris verstorbenen Maurice Strakosch (und dessen Frau, der Sängerin Amelia Patti), der als Impresario der berühmten Operndiva Adelina Patti bekannt gewesen ist (sie war seine Schwägerin). Wedekind kam am 23. oder 24.12.1898 mit Robert Strakosch zusammen., Strakosch, gleichfalls Impresario, auf den ich
vorderhand noch große Hoffnungen setze. Das einzige, was mich hindert, meine
Eroberungszüge sofort mit Entschlossenheit zu unternehmen, ist das verdammte
DramaWedekinds bereits in Zürich unter dem Titel „Ein Genußmensch“ vieraktig konzipiertes Drama, mit dem er in Paris neu ansetzte, nun unter dem Titel „Ein gefallener Teufel“, dessen erste vollständige Fassung er am 23.2.1899 fertigstellte [vgl. KSA 4, S. 411-413]; später arbeitete er es zu dem Stück „Marquis von Keith“ (1901) um., das ich in Zürich begonnen und das mir viel Zeit raubt. Sowie man mit
Schuldenzahlen sein Geld verplempert, hindert Einen die Arbeit nur daran Geld
zu verdienen. Vorderhand soll es auch das letzte Mal sein, daß ich eine
derartige Schinderei unternehme. Nächster Tage muß mein Gastspiel„Das Gastspiel“, im Manuskript der Titel von Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ [vgl. KSA 4, S. 323, 331], der unter dem Titel „Der Kammersänger“ (1899) im Albert Langen Verlag in München erschien [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 57, 10.3.1899, S. 1886]. in München
erscheinen unter dem Titel „Der Kammersänger“. Auf jeden Fall bist Du sicher,
sofort ein Exemplar zu erhalten.
Ich könnte Dir viel von einer kleinen Spanierin schreiben
mit dem schönen Vornamen Pascalenicht identifiziert., aber das Schreiben über solche Dinge hat
keinen Werth, wodurch ich Dich bei Leibe nicht davon abhalten möchte, mir Deine
Erlebnisse mitzutheilen.
Wenn Du mir etwas über meinen BruderDonald Wedekind lebte nach wie vor in München. zu schreiben hast, dann
thu es bitte und zwar ohne Rückhalt, Du bist schließlich der
Einzige, von dem ich auf aufrichtige Nachrichten rechnen kann. Er hat mir
soeben in sehr kurzer Zeit eine größere Arbeitnicht ermittelt. fertig gestellt, um die ich ihn
gebeten, und ich hoffe daraus entnehmen zu können, daß es ihm besser geht, d.h. psychisch. Was das Pekuniäre betrifft, thue ich für ihn, was ich kann, aber
auch in dieser Beziehung bin ich Dir dankbar, wenn Du mir ein offenes Wort
schreibst. Bierbaums LobetanzOtto Julius Bierbaums „Lobetanz. Ein Singspiel“ (1895), erschienen im Verlag der Genossenschaft Pan in Berlin und in der dreiaktigen Opernvertonung durch den Komponisten Ludwig Thuille am 6.2.1898 am Hoftheater in Karlsruhe uraufgeführt, sollte am Théâtre de l’Opéra-Comique am Place de Châtelet [vgl. Paris-Adresses 1898, S. 1363, 1636] aufgeführt werden, was nicht realisiert wurde. hat Aussicht an der hiesigen Opéra Comique. Ich
gönne es Bierbaum von ganzem Herzen, da ich immer nur das Gefühl der
gegenseitigen Förderung und nie dasjenige des Brodneidesrecte: Brotneides. und der Concurrenz
habe.
Grüße bitte alle die lieben SeelenWedekind nennt die Mitunterzeichner der oben im Brief erwähnten Neujahrskarte aus München: Max Halbe, Julius Schaumberger, Georg Schaumberg, Dreßler Anton – mitunterzeichnet hat vermutlich auch Lotte Dreßler (siehe oben)., die mir geschrieben,
Halbe, Schaumberger, Schaumberg, Dreßler. Wenn mir hier nicht etwas
Außerordentliches blüht, dann komme ich nach Deutschland und sitze meine Buße
abWedekind überlegte, sich zu stellen und seine Haftstrafe wegen Majestätsbeleidigung zu verbüßen, verfolgte aber erst einmal, was in der Sache geschah (siehe unten); er stellte sich erst am 2.6.1899 in Leipzig den Behörden.. Und wenn es mir gut gehen sollte, dann thue ich es wahrscheinlich erst recht.
Ich muß nur wissen, wie sich das Blatt wendetWedekind verfolgte, wie das Verfahren nach dem Prozess wegen Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre am 19.12.1898 in Leipzig sich entwickeln würde. Die Presse hatte berichtet: „(Der Majestätsbeleidigungsprozeß gegen den ‚Simplicissimus‘) findet [...] am Montag vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts zu Leipzig statt. Angeklagt sind 1. der Verlagsbuchhändler Albert Langen aus München, 2. der Schriftsteller, Schauspieler und Dramaturg des Münchner Schauspielhauses Frank Wedekind, 8. Der Karikaturenzeichner Thomas Theodor Heine aus München, 4. der Buchdruckereibesitzer Hesse aus Leipzig und 5. der Buchdruckereibesitzer Becker, ebenfalls aus Leipzig. Von diesen Personen erscheinen jedoch nur Heine, Hesse und Becker vor Gericht, während sich die Angeklagten Langen und Wedekind bekanntlich durch die Flucht nach der Schweiz ihrer Bestrafung entzogen haben. Durch die Flucht Langens als des verantwortlichen Verlegers wurden auf Grund des § 21 des Preßgesetzes die beiden Drucker des ‚Simplicissimus‘ Hesse und Becker in die Anklage mit einbezogen, so daß auch gegen sie erkannt werden wird, falls der Angeklagte Langen sich nicht noch im letzten Augenblick, wie vielfach vermuthet wird, dem Gericht freiwillig stellt.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 585, 20.12.1898, Vorabendblatt, S. 2].
In einsamen Stunden oder Stunden der Trübseligkeit, wenn Du
solche hast, mach Dich bitte mit dem Gedanken vertraut, nach Paris zu kommen.
Ich glaube Dir versichern zu können, daß sich Paris über Dich freuen würde.
Sei 1000 Mal gegrüßt von Deinem alten Freund und
Waffengefährten
Frank.