[1. Faksimile der ersten
Seite des handschriftlichen Briefs in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr.
232, S. 131:]
Sonntagder 25.6.1899..
Hochgeehrte Freundin,
diese Zeilen schreibe ich ihnen als Geschäftsbrief. So viel
Freude mir Ihre freundliche Carte bereitet und so viel Freude es mir macht,
Ihnen zu schreiben ist die Correspondenz doch nicht so frei wie Sie vielleicht
annehmen. Ich darf nicht viel Worte machen, um Ihnen alles sagen zu können. Ich
beauftragte vor einiger Zeit meinen Freund Dr. Käslin in Paris, Ihnen den „gefallenen
Teufel“ zu schicken, vorderhand ohne einen anderen Beweggrund als weil mich Ihr
Urtheil sehr interessirt, denn für irgend etwas Geschäftliches ist jetzt kurz
vor den Ferien nicht die Zeit. Die Schlußscenen des 4. und 5. Aufzuges sind
noch sehr dünn. Ich werde sie noch vertiefen müssen. Vielleicht auch die letzte
Scene des 3. Aufzugs. Es wird mich sehr freuen, Ihre Ansicht darüber zu hören.
Möglich daß es auch noch anderen
Partien an Intensität fehlt. Was Berlin betrifft, denke ich damit ans Deutsche
Theater, sost sonst habe ich mir weiter noch nichts vorgenommen. Auf
jedenfall mag Herr Doctor damit | [...]
[2. Druck:]
Leipzig, 28.VI.1899Das Datum (der 28.6.1899 wäre ein Mittwoch gewesen) ist dem Briefinhalt zufolge falsch, richtig: 25.6.1899 (Sonntag)..
(Untersuchungshaft)Der erläuternde Zusatz stammt von Fritz Strich (im handschriftlichen Brief steht er nicht, jedenfalls nicht an dieser Stelle). Der am 30.10.1898 aus München über Zürich nach Paris geflohene Wedekind hatte sich am Abend des 2.6.1898 in Leipzig den Behörden gestellt, die für die Verfolgung der Majestätsbeleidigung im „Simplicissimus“ zuständig waren. Die Presse meldete: „Leipzig, 2. Juni. Der s.Z. in die ‚Simplicissimus‘-Affäre verwickelte, wegen Majestätsbeleidigung verfolgte und flüchtig gewordene Franklin Wedekind hat sich heute Abend, direct aus Paris kommend, der hiesigen Polizeibehörde freiwillig gestellt.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 277, 3.6.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4365] Seitdem saß Wedekind in Untersuchungshaft, in der „Gefangen-Anstalt Leipzig“ [Leipziger Adreß-Buch für 1899, Teil II, S. 39].
Hochgeehrte Freundin,
Diese Zeilen schreibe ich ihnen als GeschäftsbriefDie geschäftliche Angelegenheit betraf Wedekinds schriftstellerische Arbeit, die erfolgte Übersendung seines Dramenmanuskripts „Ein gefallener Teufel“ (die Urfassung des „Marquis von Keith“) von Paris nach Hamburg an Carl Heine [vgl. KSA 4, S. 413], die Hans Kaeslin übernommen hat [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.6.1899].. So viel
Freude mir Ihre freundliche Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 24.6.1899. bereitet und so viel Freude es mir macht,
Ihnen zu schreiben, ist die Correspondenz doch nicht so frei wie Sie vielleicht
annehmen. Ich darf nicht viel Worte machen, um Ihnen alles sagen zu können. Ich
beauftragte vor einiger Zeitvgl. Wedekind an Hans Kaeslin, 12.6.1899. meinen Freund Dr. Köslin in Paris, Ihnen den „gefallenen
Teufel“ zu schicken, vor der Hand ohne einen anderen Beweggrund als weil mich
Ihr Urtheil sehr interessirt, denn für irgend etwas Geschäftliches ist jetzt
kurz vor den Ferien nicht die Zeit. Die Schlußscenen des 4. und 5. Aufzuges
sind noch sehr dünn. Ich werde sie noch vertiefen müssen. Vielleicht auch die
letzte Scene des 3. Aufzuges. Es wird mich sehr freuen, Ihre Ansicht darüber zu
hören. Möglich, daß es auch noch anderen Partien an Intensität fehlt. Was
Berlin betrifft, denke ich damit ans deutsche TheaterDirektor des Deutschen Theaters in Berlin war Otto Brahm [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 251].; sonst habe ich mir
weiter noch nichts vorgenommen. Auf jedenfall mag Herr Doctor damit walten wie
es ihm beliebt. Ich weiß zu gut, daß es mir nicht zum Nachtheil gereichen wird.
Gesternam 24.6.1899 (Samstag), Carl Heines 38. Geburtstag. war sein Geburtstag. Wollen Sie ihm meine herzlichsten Glückwünsche
übermitteln. Ich denke hier in meiner Einsamkeit auch an Ihren Geburtstag und
weiß den Tag ganz genau, aber vergangenen HerbstBeate Heine hatte am 31.10.1898 (einen Tag nach Wedekinds Flucht aus München wegen der drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung) ihren 39. Geburtstag., im Strudel der Aufregungen,
habe ich ihn schmählich verpaßt.
Ich habe noch den Nachgeschmack einer der herrlichen
Cigarren im Munde, die mir Herr Doctor geschicktDer Begleitbrief zu dem Päckchen mit den Zigarren ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 16.6.1899. und bin in Gedanken bei Ihnen
in Hamburg. Was Paris betrifft, so wird Ihnen Jedermann sagen, daß Sie in
diesem Jahre nichts in Paris verloren haben. Die Stadt gleicht einem großen
Bauplatz; sämmtliche Straßen sind aufgerissen, die Champs Elisées zur Hälfte
abgesperrt, die Seine-Quais ungangbar und in den Theatern giebt es keine
Ereignisse, weil alles auf die AusstellungDie Weltausstellung in Paris (bereits die fünfte in der Stadt) fand vom 15.4.1900 bis 12.11.1900 statt, ein Großereignis mit Millionen Besuchern. hin arbeitet. Ich weiß nicht, ob Sie
nun daran denken, zur Ausstellung hinzugehen; aber das Jahr 1901, das Jahr nach der Ausstellung,
wenn Paris aus der künstlerischen Ueberreizung einer sanften Erschlaffung
anheimfällt und dabei über den zur Ausstellung angeschafften neuesten Comfort
verfügt, stelle ich mir geradezu göttlich vor. Auch SokratesWedekind las Platon, ein Schüler des Sokrates, nämlich Platons „Symposion“ („Gastmahl“ oder „Trinkgelage“), jenes antike Dialogwerk, in dem sich die Teilnehmer eines zurückliegenden Gastmahls über den Eros unterhalten und Sokrates einer der Hauptredner ist., wie ich eben in
Platons Gastmahl lese, schätzte den Katerbummel höher als die eigentliche
Kneiperei, bei der er meistens kein Ohr für seine Weisheit fand.
Ich glaube annehmen zu dürfen, daß sich mein Los in der
nächsten Woche entscheidenEine Entscheidung fiel erst Wochen später. Das Leipziger Reichsgericht verurteilte Wedekind am 3.8.1899 zu einer siebenmonatigen Gefängnishaft wegen Majestätsbeleidigung in den im „Simplicissimus“ pseudonym veröffentlichten Gedichten „Im heiligen Land“ und „Meerfahrt“ ‒ diese Strafe wurde dann infolge eines Begnadigungsgesuchs vom 23.8.1899 in Festungshaft umgewandelt, die Wedekind am 21.9.1899 antrat und bis zum 3.2.1900 auf der Festung Königstein verbüßte [vgl. KSA 1/I, S. 1710]. wird. Ich bin geistig zu préoccupirtrecte: präokkupiert; befangen, psychisch belastet., um das, was
mir hier an äußerlichen Comfort mangelt, ernstlich zu vermissen. Außerdem habe
ich auch das deutliche Gefühl, daß man alles aufwendet, um mir, soweit es die
Hausordnung zuläßt, meine Situation zu erleichtern. Und dann habe ich
eigentlich genau genommen, ohne im Gefängnis zu sein, schon Schlimmeres
durchgemacht und deswegen auch nicht gejammert. Die einzige wesentliche Frage
ist das „Wie lange“ und darüber läßt sich, so sehr ich mich auch darauf
freue, Sie wieder zu sehen, heute noch nichts sagen.
Ich hörtevon Carl Heine, der Wedekind in den ersten Tagen der Untersuchungshaft in Leipzig besucht hat, wie Wedekind auch einem Freund brieflich berichtete [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 27.7.1899]. aber mit großem Vergnügen von Herrn Doctor, daß
Sie in Hamburg glücklich und zufrieden sind und damit rechnen, daß das alles
noch viel besser werden kann. Besuchen Sie wol noch zuweilen das hübsche Café
am Alsterbassin, Café Européendas Café de l’Europe [vgl. Baedeker 1902, S. 33f.] im Hotel de l’Europe in Hamburg (Alsterdamm 39) [vgl. Hamburger Adreß-Buch für 1899, Teil III, S. 256]., je crois(frz.) glaube ich.. Die Abende, die wir dort unter den
Bogenfenstern saßen, mit dem Ausblick auf das Wasser, sind mir in sehr schöner
Erinnerung, ebenso der Nachmittag unter dem Brückenkopf an der Außen-Alster.
Sollten sich solche Momente wiederfinden, dann werde ich sie um so höher zu
schätzen wissen und mich umso mehr davor hüten, mit dem Feuer zu spielen.
Grüßen Sie bitte Herrn Doctor bestens von mir und empfangen
Sie die Versicherung meiner unverbrüchlichen Ergebenheit.
Mit den herzlichsten Grüßen Ihr
Frank Wedekind.
[3. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Ich darf nicht viel Worte
machen, um Ihnen alles sagen zu können [...] Ich glaube annehmen zu dürfen, daß
sich mein Los in der nächsten Woche entscheiden wird. Ich bin geistig zu präoccupiert
um das, was mir hier an äußerlichem Comfort mangelt, ernstlich zu vermissen.
Außerdem habe ich auch das deutliche Gefühl, daß man alles aufwendet um mir,
soweit es die Hausordnung zuläßt, meine Situation zu erleichtern. Und dann habe
ich eigentlich genau genommen, ohne im Gefängnis zu sein, schon Schlimmeres
durchgemacht und deswegen auch nicht gejammert. Die einzige wesentliche Frage
ist das „Wie lange“ und darüber läßt sich [...] heute noch nichts sagen [...]