München
6.XI. 84.
Liebe Tante,
In heiterster Gesellschaft und mit sehr schlechtem Humor kam
ich vor acht Tagenetwa am 29.10.1884; die Vorlesungszeit begann an der Ludwig-Maximilians Universität im Wintersemester 1884/85 am 3.11.1884 [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85, S. 3]. in
München an. Die ÜbrigenWalther Oschwald, der wie Frank Wedekind in München ein Studium der Rechte aufnahm, und Armin Wedekind, der in München sein Medizinstudium fortsetzte.
spielten Karten im Coupée und überließen mir das heftige Bedauern, es nicht zu können; und die Gedanken,
in die mich die Langeweile versenkte, waren eben nicht die rosigsten. Das gab
sich aber alles schon beim Aussteigen, denn CalameLouis (Ludwig) Calame studierte seit Sommer 1882 an der Königlichen Kunstgewerbeschule in München (Dekorationsmaler). Mit seinen jüngeren Geschwistern war er nach dem Tod seiner Eltern (1777) von Verwandten (Emma Bertschinger, geb. Hünerwadel) in Lenzburg aufgenommen worden und hatte bis 1880 die Bezirksschule in Lenzburg besucht. Sein Bruder Albert war mit Frank Wedekinds Bruder William Lincoln befreundet. – Louis Calame wurde 1887 Lehrer an der Kunstgewerbeschule Köln und 1897 Professor für Stillehre, gewerbliches Zeichen und Malen am Technikum Winterthur. und H Franz
HolperFranz Holper studierte an der Kunstakademie München. Er war ein Sohn von Bertha Jahns Schwägerin Emma Holper, geb. Jahn, in München. empfingen uns, WalterWalter Oschwald, Frank Wedekinds Jugend- und Schulfreund aus Lenzburg, war Neffe Bertha Jahns; 3 Jahre lang besuchte er mit Ludwig Calame dieselbe Klasse der Bezirksschule Lenzburg.
besorgte die Vorstellung und wenige | Minuten später saßen wir schon hinter
Münchner Bier, sprachen von München, und s. w. via Lindau Romanshorn von Lenzburg, von den
Fenstern im 2. Stock vorn heraus; ich bekam Gelegenheit Ihre werthen Grüße zu
melden und vergaß dabei keineswegs der speciellenLisa Jahn hatte sich bei einem Besuch in München in ihren Cousin Franz Holper verliebt [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884].
von Frl. Lisa, und mir war bei alledem ganz heimisch zu
Muthe. – Herr Holper machte auf mich einen ganz vortrefflichen Eindruck, und
ich wünsche nichts, inniger, als daß dies auf Gegenseitigkeit beruhen möchte.
Seine Augen und das charakteristische Minenenspiel im Sprechen kam mir sofort
ganz bekannt vor;
erinnerte es mich doch an die hochwerthe Familie Jahn in Lenzburg sowohl im Allgemeinen, wie
auch im Besonderen. Die drei Briefe und die Photographien, die ich bei mir
trug, erlaubtSchreibversehen, statt: erlaubte. ich mir,
ihm +/g/leich ein|zuhändigen; leider konnt’ ich letzten Sonntagden 2.11.1884. meine beabsichtigte
Visite nicht machen, da mein Koffer noch nicht angekommen war. Morgen oder
übermorgen wird mich Walter
wol hinführen und wir werden dann unsere Aufträge zusammen ausrichten. Da ich Herrn
Holper seit jenem Abend nicht wiedergesehn und ebenso wenig Calame, so fand ich
auch keine Gelegenheit, nach Thierköpfen zu fragen. Aber ich hoffe, Ihnen bei
Nächsten/m/ darüber Nachricht geben zu können. –
München ist eine pompöse Stadt, in der ich die ersten drei
Tage wie ein Träumender
umherirrte und vor lauter Eindruck nicht zum Ausdruck kam, so daß Walter und Armin die Köpfe
zusammensteckten und meinten, der Abschied von Zuhause müsste mir doch recht
schwer geworden sein. Jetzt hab ich mich schon ein wenig besser hineind/g/efunden
und | besuche tagtäglich einige Kirchen und mehrere Paläste, ohne damit zu Ende
zu kommen. Die Krone von allem ist aber doch das Theater. Im Nationaltheater waren wir
zwar noch nicht, denn seine Majestät der König sind hier und lassen sich darin privatim
vorspielen und vortanzen. Dagegen waren wir erst gestern wieder im Residenztheater, einem wahren Juwel, einem
schimmernden Opal, der hundert schöne Farben spielt. Es wurde ein Lustspiel von Benedix ganz ausgezeichnetAm 5.11.1884 (7 bis 9 Uhr) wurde im Königlichen Residenztheater „Wegen Unpäßlichkeit des Herrn Herz statt des angezeigten Stückes ‚Das Stiftungsfest‘: Das Gefängniß. Lustspiel in vier Aufzügen von Roderich Benedix“ gespielt „In Scene gesetzt vom K[öniglichen] Regisseur Herrn Richter.“ [Königliches Hof- und National-Theater (München): Königliches Hof- und Nationaltheater. 1884, S. (674)] gegeben, so daß
es mich lebhaft an Lenzburg
erinnerte. Aber nächsten SonntagAuf dem Theaterzettel wurde für Sonntag, den 9.11.1884, Friedrich Schillers Trauerspiel „Maria Stuart“ im Hoftheater angekündigt [vgl. Königliches Hof- und National-Theater (München): Königliches Hof- und Nationaltheater. 1884, S. (674)], das anlässlich des „25-jährigen Bestehens der deutschen Schiller-Stiftung zu deren Besten[ a]ußer Abonnement mit ermäßigten Preisen“ [ebd., S. (686)] ebenfalls unter der Regie Richters aufgeführt wurde.
ist „Maria Stuart“,
und da freu’ ich mich schon jetzt auf die lebhafte Überzeugung, daß selbst die
größte Meisterschaft an einem/n/ lebhaften schönen Eindruck aus früher JugendzeitDas Lenzburger Laientheater hatte 1876 Schillers Schauspiel mit der offenbar begnadeten Laiendarstellerin Fanny Oschwald-Ringier, der Schwester Bertha Jahns, in der Hauptrolle aufgeführt. Das mit großem Eifer einstudierte Drama wurde „ein Höhepunkt in der Theatergeschichte Lenzburgs [...] Von weit her kamen zu diesem Anlaß Zuschauer, die des Lobes voll waren über diese erstaunlich gute Leistung.“ [Martha Ringier: FANNY OSCHWALD-RINIGER 1840-1918. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Bd. 13, 1942, S. 14] nicht heranreicht.
Walter Oschwald haben mein Bruder und ich sehr viel zu
danken, denn er ging | uns in jeder Beziehung so hülfreich zur Hand, daß ich
mir kaum denken kann, wie wir ohne seine Führung uns zurecht gefunden hätten.
Gestern waren wir zu Dritt in der Gräflich Schack’schen GallerieDie Gemäldesammlung des Grafen Adolf Friedrich Schack befand sich in seinem Palais an der Brienner Straße 19 und war seit 1865 öffentlich zugänglich [vgl. https://www.pinakothek.de/de/sammlung-schack].. Leider kann ich Ihnen, liebe Tante, nichts davon erzählen, denn vor lauter
Bäumen von konnt’ ich factisch den Wald nicht sehn und muß jedenfalls
noch einige Mal dadurch wandeln bis ich im Kopf behalte, was mir gefiel und
auffiel. – Überhaupt wär’ ich Ihnen, hochverehrte Tante, sehr dankbar, wenn Sie
mir Berichte über all’ das Schöne, womit die hohe Kunst mich überhäuft,
erlassen würden; denn einmal ist<Loch:
ist> mir das Briefpapier viel zu lieb, als daß ich es an Dinge
verschwenden möchte, die man auf jeden/m/ schlechten Druckbogen besser
liest, und sodann werden Sie ja das alles mit eigenen Augen sehen, wenn Sie
über kurz oder lang nach München kommen, und da möcht’ ich | Ihnen dann nicht
durch mein unreifes Geplauder schon der/n/ ersten Eind/D/ruck
verdorben haben. –
Hoffentlich ergeht es Ihnen, liebe Tante, und all’ den
Ihrigen recht wohl und herrscht strahlt d noch immer ungetrübt
der milde Sonnenschein in der traulichen
LöwengrubeAnspielung auf eine Strophe in Wedekinds Widmungsgedicht „Seiner lieben Tante Frau Bertha Jahn [...]“: „Ich aber stehe hier in dieser Stube / Ganz einsam unter wilder Löwenbrut; – / Wie einst dem Daniel in der Löwengrube / So sind auch mir die Löwen alle gut.“ [Wedekind an Bertha Jahn, 18.10.1884]. Gemeint sein dürfte Bertha Jahns Haus, die Löwenapotheke in Lenzburg, sowie die Familie Jahn, die verwitwete Bertha Jahn mit ihren vier Kindern Viktor, Lisa, Hanna und Ernst.. Hier in München
giebt es zwar auch eineEine Löwenapotheke gab es in München in der Utzschneiderstraße 14, Besitzer Alfons Buchner [vgl. Adreßbuch für München, 1884, Teil IV, S. 10] Auch gibt es eine Straße mit Namen ‚Die Löwengrube‘ in München, die aber keine auffälligen Einträge zeigt [Adreßbuch für München, 1884, S. 284-286] Schließlich könnte Wedekind auch auf Löwenbräu, die älteste Münchner Brauerei in der Nymphenburgerstr. 72, oder den Bayrischen Löwen in der Bayerstr. 3 von Anna Mathäser Bezug genommen haben [vgl. Adreßbuch für München, 1884, Teil IV, S. 20].,
aber Daniel‚Daniel in der Löwengrube‘ gehört zu den beliebten biblischen Erzählungen. Mit Gottvertrauen gelingt es Daniel, der über Nacht in einer Löwengrube gefangen gehalten wird, am nächsten Morgen unversehrt frei zu kommen [vgl. Daniel 6]. ist noch
nicht hineingegangen. Das Bier soll dari/ort/ nicht so gut sein, wie an
anderen Orten und die Löwen wahrscheinlich auch nicht. – Tausend Grüße an Sie,
liebe Tante, und Ihre ganze hochwerthe Familie. Meine Empfehlungen an Frl. Lisa und einen recht schönen Extragruß an Hanna, die lustige Komödiantin. Grüßen Sie mir
auch Lenzburg, das süße, sonnige Städtchen, und Herrn Schrödernicht identifiziert; möglicherweise der Nachfolger Adolf Spilkers in der Löwenapotheke Lenzburg., erlaub’ ich mir, e/f/ür seinen sinnigen Scherz
ein ganz Specielles in Münchner Bier zu vorzukommen. – Ich bin in
kindlicher Ergebenheit Ihr dankbarer Neffe Franklin.
[Am rechten oberen
Rand von Seite 1 um 90 Grad gedreht:]
Für den
Fall, daß Sie, liebe Tante mich vielleicht einmal mit einigen freundlichen
Worten beehren wollen, gestatte ich mir, Ihnen meine Adresse hier beizufügen.
F W.
Türkenstraße 30.
Rückgebäude.
München.