Schloß Lenzburg am 10/V 87
Mein herzlich geliebter Baby.
Obgleich ich Wäsche, Flickereien und andere Quagneleien„QUACKELEI […] leichtsinnige tändelei, wertloses dummes zeug, mischmasch“ [DWB 13, Sp. 2290].
haufenweise um mich herum liegen u. stehen habe, kann ich dennoch nicht anders
als Dir zu schreiben. Ich bin nemlich in einer argen Noth und Unruhe und Du
bist die Ursache davon. Ich weiß, daß Du elend und muthlos bist. Ich möchte Dir
helfen, ich muß Dir helfen und bitte Dich, es mir möglich zu machen. Du bist in
Angst wegen Deiner NovelleWedekinds Novelle „Marianne. Eine Lebensgeschichte“ [KSA 5/I, S. 37-76]. Wann Wedekind das Manuskript seiner Mutter zur Lektüre übergeben hatte, ist unbekannt. Im Juni bot er die Novelle der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „Thurgauer Zeitung“ zur Publikation an, erhielt jedoch von beiden Redaktionen eine Absage [vgl. Neue Zürcher Zeitung an Wedekind, 17.6.1887 und Thurgauer Zeitung an Wedekind, 20.6.1887].. Ich auch. Tausenderlei
Gedanken durchkreuzen meinen Kopf und wenn Du da wärst, könnte ich Dir so
manches mittheilen, was Dir sicherlich von Nutzen wäre. Je länger, desto klarer
| fühle ich, was an der Novelle mangelt. Meiner Ansicht nach ist es die starke
tiefe Leidenschaft und ein großer
Charakter Gedanke, der ihr abgeht.
Siehst Du, wenn Deine Marianne z. B. an ihrer Liebesbedürftigkeit zu Grunde
ginge, so wäre das schon eine gros Idee, die
jedenfalls wenig Leser kalt ließe. Sie liebt zuerst die Frau des Bauern. Diese
stirbt unter der rohen Behandlung ihres Mannes, hinterläßt den Alois auf den
Marianne ihre ganze Liebe überträgt und um dessen willen sie seinen Vater
heirathet trotz ihrer Liebe zu Claus, der sie durch Schönheit, Jugend und heiße Gegenliebe fesselt. Gegen ihre wahre Neigung bringt sie sich selbst zum
Opfer und zwar aus Dankbarkeit gegen die Bäurin und infolge dieser auch aus
Liebe zu deren verlassenenSchreibversehen, statt: verlassenem. Kinde. | SistematischSchreibversehen, statt: Systematisch. wird aber Alois von seinem
Vater verzogen, wird ein wiederwärtigerSchreibversehen, statt: widerwärtiger. liederlicher Bursche. Dann stirbt der
Bauer, wie man allgemein meint, an/vo/n einem Pferde erschlagen. Der
zurückgekehrte Klaus wirbt um Marianne, die unterdessen
ihre Liebe auch an ihrer Schwester Vreneli bethägtSchreibversehen, statt: betätigt. hat, und ihr mit warmem
Herzen zu ihrem ersehnten Glücke verhilft; Das Glück der jungen Leute weckt
auch in Marianne zärtliche Regungen. Sie gibt Claus Gehör und heia/r/athet
ihn, indem sie sich schmeichelt auch für Alois Gutes
dadurch zu erreichen, indem sie ihm in dem tüchtigen, oft ernst, ja düster
dareinblickenden Claus einen vortreffliches Vorbild und zur Noth, einen
strengen Vater zu geben hofft. Bei dem von | Natur boshaften Alois schlägt
alles fehl und eine Scene von Betrunkenheit führt einen Konflickt herbei, wori/be/i
der Bursche seiner Mutter da/e/s Verbrechens beschuldigt, seinen
Vater ermordet zu haben. Auf diese Weise und um seine Frau vor dem Gerichte zu
rechtfertigen bekennt Claus, (auch wohl vom eigenen
Gewissen und Wahnsinn der Verzweiflung getrieben) die blutige That und Marianne
sieht ein, daß sie ihre heiße Liebe an einen/m/ Ver Mörder
geschenkt hat. Sie kann ihn nach Ueberwindung des ersten Entsetzens dennoch
nicht hassen, sondern sucht den zu lebenslänglichem Zuchthause Verurtheilten durch ihre treuen Beweise ihres tiefen
Mitleidens und fortdauernder Liebe (schmerzlicher) im Gefängniße zu trösten.
Indessen wird in der Umgegend allerlei Verdächtiges über sie gesprochen. Alois
und seine Saufkumpane ver|läumden sie und letzterer erpreßt von ihr soviel Geld
als er kann, unter dem VorwandeDie Bitte um Geld mit einer Selbstmorddrohung zu verbinden, war später ein wiederholt angewandtes Mittel Donald Wedekinds gegenüber seiner Familie [vgl. z. B. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900]., er wolle sich sonst erhängen. Mit Freude sieht
er das Entsetzen im Gesichte seiner Mutter und gebraucht diese Entdeckung zur
Schraube, mit der er immer seinen Zweck erreicht. Bis endlich di
Marianne einsieht, daß es auf diesem Wege nicht weiter gehen kann und der Junge
ganz zu Grunde geht. Auch merkt sie nachgerade die List des jungen Wüstlings
und als er wieder einmal droht, sagt sie ihm, „: Geh und thu es, es ist
vielleicht besser als wenn Du Dich zu Tode säufst.[“] Alois weiß aber, daß
seine Mutter ihn seit seinen Drohungen stets scharf
beobachtet. Darauf rechnet er. Marianne bekommt aber plötzlich einen
Brief von Vreneli deren Mann gestorben und bevor reist noch am Abend,
während der Alois betrunken | auf seiner Kammer liegt in/pl/ötzlich ab.
Am andern Morgen, kurz bevor die Mutter für gewöhnlich kommt, ihn zu wecken,
hängt sich Alois auf, in der Hoffnung, sofort wieder abgeschnitten zu werden,
was aber nicht passirt. Wieder ein sieht Marianne
(oder glaubt zu sehen) daß ihre treue, aufopfernde Liebe Unheil gebracht hat.
Die Gerüchte über ihre Schlechtigkeit vermehren sich. Die Leute zeihen sie der
Hexerei und sagen, sie brauche nur zu wollen, dann hole der Teufel die
Menschen, die ihr im Wege stehen. Jetzt sei auch der Sohn
weg und nun bekomme sie das ganze viele Geld des Bauern. Sie steht vereinsamt,
gemieden Kinder weichen ihr scheu aus und Niemand sucht die verlassene alternde
Frau auf. Sie besucht ihren unglücklichen Claus nun öfter im | Zuchthause,
allein der geht schnell dem Tode entgegen. Endlich nimmt sie ihre Schwester,
Vreneli ins Haus, die aber ein albernes genußsüchtiges Geschöpf ist und durch Dummheiten
und Klatschen bei Nachbarsleuten ihre Schwester noch mehr ins Gerede bringt.
(Nun kann hier die Schuhgeschichte ihre Anwendung finden, so zwar, daß man
sieht, daß Marianne auch bei der Dummheit kein Glück hatte nachdem sie eine
gutmüthige Bäurin, einen rohen Bauern, einen boshaften Stiefsohn, einen zwar
leichtsinnigen aber hochherzigen Geliebten mit ihrer warmen, aufopfernden Liebe vergebens zu beglücken gesucht hatte (oder
unglücklich gemacht hatte).) – Verbittert und schroff lebt
sie den Rest ihres Daseins dahin, verzweifelnd an Gott und den Menschen. Zum
Schluß und um wenigstens einen versöhnenden Schluß zu haben, könnte sie sich |
eines verlorenen Mädchens und deren Kinde erbarmen, die sie kurz vor ihrem Tode
zur Erbin einsetzt, weil sie eben doch wenigstens mit dem Wahne
hinübergehen will, einem Menschen etwas Gut Glück
gebracht zu haben. Zwar weiß sie wohl, daß sie dieses Glück nicht sehen werde
und will es auch nicht, denn sie kann den Zweifel nicht verbannen, daß es
wieder an an irgendeiner Klippe zerschellen werde. Mit dieser
(philosophischen?) Ungewißheit stirbt sie. –
Nun habe ich gedacht, mein lieber alter Junge, wenn Du, bis diese
Novelle fertig wäre nach Hause kämest, wo Du dann der/n/ schönen Sommer
über fleißig daran arbeiten könntest. Nebenbei könntest Du Deine Artikel für |
MaggiWedekind hatte Anfang April seine feste Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich aufgegeben, arbeitete aber weiterhin (bis Juli 1887) auf Honorarbasis als Werbetexter für Maggi [vgl. Vinçon 1992, 121]. schreiben um ein Taschengeld zu haben. Es wäre gewiß besser als da in
Zürich Dich abzuquälen und dann könntest Du ruhig abwarten, was Dir das
Schicksal weiter vorbehalten hat.
Ueberlege Dir meinen Vorschlag, mein
geliebter Junge und wenn es Dir nicht paßt, dann schreibe mir wenigstens, warum
es Dir nicht paßt. Jedenfalls erwarte ich irgend ein Lebenszeichen von Dir und
zwar sobald wie möglich. Ich bleibe in Angst und Sorgen Deine getreue Mutter
E. Wedekind.