Zürich, 7.V.87.
Liebe Mama,
ich gratulire dir herzlich zu deinem GeburtstagEmilie Wedekind hatte am 8.5.1887 ihren 47. Geburtstag.. Wenn momentan
auch gerade schlecht w/W/etter ist, so steht ja doch der Sommer vor der
Thür, und sonnige Tage können nicht ausbleiben. Mit gleicher Post übersende ich
Dir ein Feuilleton Wedekinds Essay „Der Witz und seine Sippe“ [KSA 5/II, S. 82-93] erschien an drei aufeinanderfolgenden Tagen am 4., 5. und 6.5.1887 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ [vgl. KSA 5/III, S. 206].das in den letzten Tagen erschien und das du wahrscheinlich schon
gelesen hast. So bringen es die Verhältnisse mit sich; da meine Baarschaft zu
einer würdigen
Huldigung, die ich dir gerne zu Füßen gelegt hätte, nicht ausreicht, dreh ich
den Spieß gleich um und gelange selber mit einer Bitte an dich, mit der Bitte
nämlich um rückhaltlose Kritik. Ich bin in der That sehr darauf
gespannt, welchen Eindruck Dir das Opus im Ganzen wie im Einzelnen,
im Allgemeinen wie im Besonderen macht. | Ich selber finde nachträglich nicht
wenig daran auszusetzen, obschon ich mich noch durchaus keines klaren Blickes erfreue.
Ich bitte dich, keinen wohlwollens/d/en, niedrigen Maßstab anzulegen sondern
von deinen Ansprüchen an eine geistreich sein wollende Lectüre aus zu
urtheilen. Immerhin wäre es mir angenehm wenn du mir/ch/ nicht nur auf das Verfehlte, sondern auch auf das allfällig(schweiz.) möglicherweise. Gute,
Gelungene darin aufmerksam machst. Das eine ist so werthvoll, wie das andere;
man geräth sonst immer wieder auf neue Abwege.
Im übrigen geht es mir gut. Ich arbeite noch zum größten TheilWedekind hatte Anfang April seine feste Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich aufgegeben, arbeitete aber weiterhin (bis Juli 1887) auf Honorarbasis als Werbetexter für Maggi [vgl. Vinçon 1992, 121].
für Herrn Maggi, befinde mich aber auf dem Wege der Emancipation. In meiner
früheren Stellung, in der ich mit Leib und Seele verschachert war, wär ich zu
Grunde gegangen. Es ist
mir zuträglicher, in freier Luft den Pflug zu ziehen, als angebunden im dunkeln
Stall zu stehen, um bei möglichst viel Futter möglichst viel Milch zu
produziren. Herr Emil FreyEmil Frey, Bruder von Wedekinds ehemaligem Deutschlehrer Adolf Frey an der Kantonsschule in Aarau, war „Wedekinds Kontaktperson in der Redaktion“ [KSA 1/II, S. 1801] der „Neuen Zürcher Zeitung“ und dort bis zum Jahresende 1887 in der Chefredaktion, wie die Zeitung mitteilte: „An unsere Leser. Die vorliegende Nummer ist die letzte, die Herr Emil Frey unterzeichnet. Er verläßt mit Neujahr die Redaktion dieses Blattes, um seine Kräfte mehr als bisher der Kaufmännischen Gesellschaft Zürich zuzuwenden, deren Sekretariat er seit einer Reihe von Jahren geführt hat. [...] Zum Glücke wird unser Freund aber in engem Zusammenhange mit der Neuen Zürcher Zeitung bleiben“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 364, 31.12.1887, 2. Blatt, S. (1)]. geht mir nach wie vor mit seinem guten | Rath an die
Hand. Übrigens hat er sich vor kurzem verlobt und zwar mit einer Baslerin
namens Rosa Gass. Daneben hör ich wiederum einige CollegienWedekind besuchte nicht näher identifizierte Vorlesungen an der Universität Zürich, ohne als Student eingeschrieben zu sein. und bin Mitglied
der MuseumsgesellschaftDie 1834 gegründete Museumsgesellschaft Zürich hatte ihren Sitz am Limmatquai 21 [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1888, Teil I, S. 218] und unterhielt dort einen Lesesaal mit „Lesestunden vom Morgens 8 Uhr im Sommer u. 9 Uhr im Winter bis Abends ½ 10 Uhr“ [ebd., Teil III, S. 52]., was beides sehr viel gutes mit sich bringt.
Armin arbeitet indessen aus Leibeskräftenum das Medizin-Examen im zweiten Anlauf zu bestehen [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 26.6.1887].. Bisweilen kommt er
nach dem Essen zu mir zum Caffe, sonst seh ich ihn selten. Carl Henkell wird
dir wol wahrscheinlich eigenhändigDie Korrespondenz zwischen Karl Henckell und Emilie Wedekind ist nicht überliefert: Karl Henckell hatte sich für die Publikation von Emilie Wedekinds Novelle „Bewährte Liebe“ eingesetzt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 9.3.1887]. das nöthige über sich mittheilen. Möglich,
daß wir um PfingstenDer Pfingstsonntag fiel auf den 29.5.1887. wiederum für einige Tage nach Z/L/enzburg kommen.
Es würde mich sehr freuen, Minna dann wieder zu sehen„Minna von Greyerz […] kehrte im Frühjahr 1887 nach abgeschlossener Klavier- und Gesangsausbildung in Dresden nach Lenzburg zurück, wo sie als Klavier- und Gesangslehrerin tätig blieb.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 120]; einstweilen laß ich sie
von Herzen grüßen Hoffentlich gelingt es ihr nach und nach, ihr geistiges
Gleichgewicht wiederzugewinnen. Tante Jahn ist sehr böse über mich, da ich sie angeschwindelt habe. Ich
that es, ohne noch zu wissen, daß sie das nämliche mit mir vorhatte, weshalb es
mich freut, ihr zuvor gekommen zu sein. –
Und nun leb wohl, liebe Mama. Meine herzlichsten Grüße an
Alle und besonders | an dich von Deinem treuen Sohn
Franklin.