[Hinweis in: Berliner
Tageblatt, Jg. 40, Nr. 614, 2.12.1911, Abend-Ausgabe, S. (3):]
Protest gegen die Zensur!Der gemeinsam von Wedekind und Otto Borngräber unterzeichnete Aufruf „Protest gegen die Zensur!“ [KSA 5/II, S. 424-425] im „Berliner Tageblatt“ fand in der Presse große Beachtung [vgl. KSA 5/III, S. 683-685] und wurde in zahlreichen Zeitungen nachgedruckt – etwa in den „Münchner Neuesten Nachrichten“, die den Aufruf mit den Worten einleiteten: „Frank Wedekind und Otto Borngräber lassen durch eine Berliner Korrespondenz folgenden Protest den Zeitungen zugehen“ [Ein Protest gegen die Zensur. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 567, 5.12.1911, Vorabendblatt, S. 2], oder in den „Dresdner Neuesten Nachrichten“, die sich direkt auf die Quelle bezogen, auf das „B.T.“ [Ein Aufruf Frank Wedekinds und Otto Borngräbers gegen die Zensur. In: Dresdner Neuesten Nachrichten, Nr. 330, 3.12.1911, 2. Ausgabe, S. 2]. Er richtete sich gegen das Verbot der öffentlichen Aufführung von Wedekinds „Totentanz“ [vgl. KSA 6, S. 667-670] und gegen das Verbot von Otto Borngräbers Stück „Die ersten Menschen. Erotisches Mysterium in zwei Aufzügen“ (1908), das schließlich am 30.6.1912 von der Münchner Zensur freigeben wurde [vgl. KSA 5/III, S. 684] und Wedekind am 2.7.1912 die zweite Vorstellung am Münchner Schauspielhaus (Premiere war am 1.7.1912) besuchte: „Die ersten Menschen von Borngräber“ [Tb]. Von Frank Wedekind und
Otto Borngräber erhalten wir den folgenden Aufruf:
Wir protestieren anläßlich der behördlichen Unterdrückung der „Ersten Menschen“ an sämtlichen Bühnen Bayerns und von „Totentanz“ („Tod und Teufel“) an verschiedenen Bühnen Deutschlands gegen die Unterbindung unseres Wirkungskreises, unserer geistig-künstlerischen Individualität, unserer inneren und äußeren Entwickelung. Wir protestieren gegen die polizeiliche Bevormundung des gebildeten Publikums, unseres Volkes, das allein das Recht hat, seine Dichter zu beurteilen oder zu verurteilen.
Wir haben kein Duumvirat geschlossen, um mit vereinten Kräften die Volksseele planmäßig zu vergiften; denn wir kämpfen ja als zwei fast entgegengesetzte Individualitäten für ganz verschiedenartige kulturelle, religiöse, künstlerische Ziele. Aber wir sind eins
in der Verteidigung unserer Freiheit, der Freiheit der Dichter und Denker und der geistigen Freiheit unseres Volkes. Wir kämpfen nicht nur für uns beide, sondern für alle, die mit uns und nach uns leiden. Wir fordern die Denkenden und die Mitfühlenden aller Stände hiermit auf, sich uns anzuschließen zum Protest gegen die Uebergriffe der Zensur.
Otto BorngräberDr. phil. Otto Borngräber, Schriftsteller in Dresden (Tolkewitzer Straße 17) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1912, Teil I, S. 84], könnte sich am 1.12.1911 (das mutmaßliche Schreibdatum des nicht überlieferten Begleitschreibens) bereits in München aufgehalten haben, wo er am 13.12.1911 sein Stück „Die ersten Menschen“ (siehe oben) las; die Presse meldete: „Otto Borngräber liest, wie bereits angekündigt, Mittwoch, 13. Dezember im Bayerischen Hof sein Drama ‚Die ersten Menschen‘, ein erotisches Mysterium, vor. Die Vorlesung soll den literarischen Kreisen Münchens Gelegenheit geben, über die innere Berechtigung des polizeilichen Aufführungsverbotes für Bayern selbst ein Urteil zu fällen.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 576, 9.12.1911, Morgenblatt, S. 2]. Frank Wedekind.