Paris 63.rue
de Seine
Dienstag.
Liebe Mama,
ich danke dir herzlich für deinen freundlichen Nach/Brie/fnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 8.9.1893. Der Brief traf am 10.9.1893 ein, wie ein Tagebucheintrag Wedekinds belegt: „Ich gehe nach Hause, finde auf meinem Tisch […] einen Brief […] von Mama.“
und die Übersendung der/s/ Paketes. Ich muß dich nun leider mit einer
unangenehmen GeschichteIm Tagebuch notierte Wedekind über einen Besuch bei Emma Herwegh: „Plötzlich unterbricht sie sich selber, sie müsse mich in einer sehr schwierigen Angelegenheit um einen Rath fragen. […] Sie fragt mich, was ich dazu meine wenn sie meine Mutter bäte, ihr bis Neujahr 200 frs vorzuschießen. Um Neujahr werde sie es ihr zurückgeben können. Sie kenne meine Mutter zwar nicht, habe sie nie gesehen, aber ob ich glaube daß sie es ihr geben würde. So überraschend mir der Vorschlag ist, lasse ich mich doch nicht aus dem Sattel heben. Ich sage ihr, es wäre doch wol natürlich, wenn sie mir diese Mission meiner Mutter gegenüber übertrage. Darin hat sie indessen kein Vertrauen. Sie sagt, sie werde ihr selber schreiben, würde es auch schon gethan haben, wenn sie sich nicht gescheut hätte, es ohne mein Mitwissen zu thun. Das wäre ihr nicht reell erschienen, wie denn die Adresse meiner Mutter sei. Meine Mutter sei ja meiner Beschreibung nach allerdings eine sehr einfache Frau, müsse auch entsetzlich heruntergekommen sein, aber wenn sie ja nur ein gutes Herz habe. Um ihrer selbst willen würde sie es nicht thun. Es handle sich aber um Marcell, den sie um alles gern vor Beginn der Saison noch für vierzehn Tage in’s Seebad reisen lassen möchte. Meiner Mutter schreibe sie natürlich nichts davon, daß es sich um Marcel handle. Sie werde so schreiben, als brauche sie die 200 frs für sich selber.“ [Tb 10.9.1893] bekannt machen, die von dir abzulenken mir nicht
möglich war, so gerne ich es gethan hätte. Du wirst wahrscheinlich in den
nächsten Tagen einen Brief von Frau Herwegh erhalten in dem sie dich um 200 frs anpumpt. Ich bitte dich
auf keinen Fall darauf hineinzufallen, schon | deshalb nicht, weil das
Geld gar nicht für sie, sondern für ihren Lumpenkerl von MarcelMit Emma Herweghs Sohn, dem Geiger und Publizisten Marcel Herwegh, traf Wedekind bei ihr mehrfach zusammen. „Er […] benimmt sich dabei so lümmelhaft, daß es mir schwer wird, ihm eine Antwort zu geben“ [Tb 5.1.1894], notierte er einmal. Und kurz darauf: „Wie er sich verabschiedet bringe ich es da noch über mich ihm freundschaftlich die Hand zu drücken aber kaum ist er draußen, so spüre ich einen grauenhaften Nervenanfall. Ich habe die Sprache verloren, ich bringe den Mund nicht auf und schlage der Länge nach auf die Diele hin. Ich fühle es wäre mir eine Wohlthat zu schreien, aber ich kann nicht.“ [Tb 7.1.1894] bestimmt ist.
Da ich dir gerne jede v/w/eitere Mühe in dieser Geschichte ersparen
möchte, so für/g/e ich hier einige Zeilen bei, dir/e/ du einfach
abschreiben kannst, wenn sie dir passenSchreibversehen, statt: passend. erscheinen.
Sehr geehrte Frau,
da ich mich nicht in der glücklichen Lage befinde, Ihrem
Wunsche entsprechen zu können, so verzeihen Sie mir, wenn ich mich auf die
wenigsten Worte beschränke. Ich habe im Lauf der letzten Jahre Verluste
erlitten, die mich zu erdrücken drohe/t/en und diesen Sommer,
gelegentlich des Besuchs meinerKinder, mehr | geopfert als mir mein geringes
Einkommen erlaubt, so daß mir für die kommenden Monate kaum mehr das wenige
bleibt was ich zur Bestreitung meiner eigenen bescheidenen Bedürfnisse nöthig habe.
Seien Sie versichert, gnädige Frau, daß ich stets in meinem
Leben geholfen habe, wo es mir möglich war. Ich habe wenig Menschen um mich,
die n/d/as nicht schon erfahren hätten und mein Sohn wir IhnenSchreibversehen, statt: wird Ihnen. wol auch
das nämliche gesagt haben. Entschuldigen Sie mich also und genehmigen Sie Versicherung meiner
größten Hochschätzung.
Ergebenst
Emilie Wedekind. |
Sollte Frau Herwegh dessen ungeachtet noch einmal kommen, so
antworte ihr bitte nicht mehr. Sie hat Bekannte die zehnmal reicher sind als
du, mit denen sie aber die Freundschaft nicht verderben will. Ich/Es/ thut mir wie gesagt
leid, daß ich dich in diese Angelegenheit verwickelt habe. Sie hat die
Geschichte aber mit einem Raffinement eingefädelt, die/a/s einer
SpitzederAdele Spitzeder war eine bekannte Betrügerin, die eine Privatbank gründete zur Veruntreuung der eingezahlten Gelder. Diese sogenannten „Dachauer Banken“ waren „Schwindelanstalten, die 1871 und 1872 in München bestanden und gegen sehr hohe Zinsen Depositengelder auf kurze Kündigung annahmen, indem sie darauf rechneten, aus immer weiter folgenden neuen Einlagen Verzinsung und etwanige Kapitalrückzahlungen bestreiten zu können. […] Die bekannteste der Anstalten war die der ehemaligen Schauspielerin Adele Spitzeder, die 20. Juli 1873 wegen betrügerischen Bankrotts zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Die Einlagen bei der Spitzeder berechneten sich auf ungefähr 8 ½ Mill. Gulden, von ca. 30,000 Gläubigern.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 4. Leipzig, Wien 1894, S. 465]. würdig wäre. Sie selber ist dessenungeachtet eine famose Frau. Was
sie in dieser Hinsicht unternimmt das fällt wie gesagt alles auf Rechnung ihres
Mustersöhnchens.
Paris habe ich diesmal schöner gefunden als je vorher. Tante
Pl. schreibt
mir einen dicken Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Olga Plümacher an Frank Wedekind, 28.8.1893. Der Brief erreichte ihn am 10.9.1893: „Ich gehe nach Hause, finde auf meinem Tisch […] einen Brief von Tante Plümacher“ [Tb].. Was nicht geschäftlich ist, schicke ich dir hier mit.
Vielleicht schreibst du ihr doch mal wieder im Laufe des Winters. Und nun leb
wol/h/l liebe Mama. Nochmals mit bestem Dank dein treuer Sohn
Frank.