Seiner lieben
TanteBertha Jahn, die verwitwete Inhaberin der Lenzburger Löwenapotheke, war mit Wedekind mindestens seit Herbst 1883 befreundet, stand mit ihm aber in keiner verwandtschaftlichen Beziehung. Seine Poesien versah sie, die selbst dichtete, mit kritischen Anmerkungen. Im Herbst 1884 entwickelte sich zwischen ihr und dem 25 Jahre jüngeren Studenten eine Liebschaft, die offenbar immer wieder aufflackerte, ehe sie nach 3 Jahren endgültig beendet wurde. Wedekind nannte sie seine erotische Tante.
Frau
Bertha Jahn
in
kindlicher Ergebenheit der dankbare Neffe
Franklin. 18.X.84. |
Ein
Lied, ein Lied! – Mein Herz will überfließen;
S/D/ie Seele schwingt sich jauchzend himmelan. –
Ein Lied, worin die Freude sich ergießen,
das Lied sich senken und begraben kann!
Sing mir – heut will die ganze Schöpfung singen:
Rings um mich her, wohin mein Auge sieht,
Hör’ ich die schönsten Melodien erklingen. –
Sing mir, o Poesie, ein frohes Lied! –
Nicht,
wie die Kunstpoeten aller Zeiten,
In strengem Rhythmus, engem Sylbenmaß,
Mit Wortabwägen und mit Kleinigkeiten,
Besteig, o Göttin, heute den ParnaßBerg in Griechenland; in der griech. Mythologie der Sitz der Götter.!
Verlaß den Pfad der leeren Reimerei!
Frisch, froh und frei
In lieben, leichten, zügellosen Stanzenital. Strophenform.
Laß jetzt die Geister Deiner Muse tanzen! – |
Was
soll dem Jüngling all’ der Flitterkram,
Worein Philister ihre
Verse ketten? –
Ein freies Wort, das aus der Seele kam,
Verschmäht den Zwang von zierlichen SonettenGedichtform.;
Ein himmelstürmender Gedanke bricht
Die engen Schranken jeder Form zusammen,
Und auf dem freien Götterangesicht
Sprühe feuerathmend der Begeistrung Flammen. –
Was ist
es, das den Menschen glücklich macht?
Für welche Gunst soll ich den Schöpfer preisen?
Ist’s Geld und Gut, ists
hohe Königspracht?
Ist’s Tugend, ists
der kluge Sinn des Weisen? –
Beim Himmel, nein! Mein Glück muß tiefer sein!
Es ist des Lebens gold’ner Sonnenschein,
Es ist – o selig alle, die es fanden! –
Ein großes Herz, das unser Herz verstanden. –
Am
grünen Bergeshang stand eine Wiege,
Drin lag ein frohes, unschulds
volles Kind; |
Blau war sein Aug’ und herrlich seine Züge,
Wie sie bei überird’schen Wesen sind.
Und rings im Kreise standen schöne Frauen,
Wie Sterne um der Sonne Glanz geschaart,
Das Kind zu segnen und es anzuschauen
Und zu beschenken für die Pilgerfahrt.
Und in
den Kreis trat eine schöne Frau,
War eine Göttin aus dem Heidenthume;
Blond war ihr wallend Haar, ihr Auge blau,
Am Herzen trug sie eine weiße Blume;
Und sprach: „Ich bin die große Göttin Herthagermanische Göttin der Fruchtbarkeit (Mutter Erde).,
Dich hab’ ich mir zum Pathchen auserwählt.
Und daß Dich stets mein starker Geist beseelt,
Geb’ ich Dir meinen zweiten Namen Berthadie Glänzende; in der germanischen Mythologie auch Berchta (Perchta), Hulda, Frau Holle (Mutter Erde), Hertha genannt: „Hulda, Frau Holle, der Name einer thüringhessischen Gottheit [...]. Es soll auch ein Beiname der Hertha sein, und es ist nicht unmöglich, daß diese germanische Göttin in gewissen Provinzen so genannt wurde. [...] In einigen Gegenden heißt sie auch die wilde Prechta, die wilde Bertha, [...] und denen, die ihr Wohlergefallen erregen, erscheint sie als weiße Frau“ [Damen Conversations Lexikon, Bd. 5, 1835, S. 348f.]..“
Ein
ernstes Weib tritt in des Kreises Mitte
Und ihres Segens Zauber sich bewußt
Naht sie der Wiege sich mit leichtem Schritte
Und küßt das Kind auf seine junge Brust: |
„Dir sei ein großes, edles Herz beschehrt,
Wie eine Laute reich und klar besaitet.
Es mach’ Dich glücklich, froh und hochgeehrt,
Wenn’s Dir auch manchen herben Schmerz bereitet.“
Ein
edles Herz, das Menschen lieben kann,
Sie zu begreifen weiß, selbst wenn sie fehlen –
Ein edles Herz, das mit sich himmelan
Uns trägt zum höchsten Fluge schöner Seelen –
Ein edles Herze ist ein tückisch Gut,
Ihm ist gar manches/r/ schwere Kampf beschieden.
Allein was ihm die Welt auch Leides thut;
Es trägt im Innern einen tiefen Frieden. –
Jetzt
naht ein w/W/eib in seiner Schönheit Blüthe,
Schlank, leicht und hoch, von reizender Gestalt,
Zur Seite jener Wiege macht sie halt –
Es war die mächt’ge Göttin Aphroditein der griech. Mythologie die Göttin der Schönheit, sinnlichen Liebe und Verführungskunst..
Weiß Gott! Sie schwebte her als wie ein Engel,
Doch trug sie heidnisch, griechisches Gewand,
Und an der marmorweißen, zarten Hand
Folgt ihr ein kleiner, ungezog’ner Bengelin der röm. Mythologie Amor (auch: Cupido), röm. Gott der Liebe und Sohn der Venus (bzw. Aphrodite).. |
Drauf
küßte sie das Mädchen lang und viel
Und blickt’ es an und segnet’ es und lachte:
„Ich schenke Dir ein griechisches Profil
Und alles, was mich selbst zur Göttin machte!“ –
Und wie sie noch so zärtlich kosen thät,
Zog Amor heimlich schmunzelnd und in Eile
Aus seinem Gurt den schärfsten seiner Pfeile
Und practizirt ihn meuchlings unter’s Bett.
Frau
Venus trat zurück und ahnte nichts
Von allem, was ihr kleiner Schelm pexiretanstellt.. –
Sieh da, erschien im Glanze höhern Lichts
Voll Würdigkeit und stolzen Angesichts
Als Diamant, der eine Krone zieret
Die Göttin Poesie von PhöbusBeiname des Appollon, des griech. Gottes der Künste.
selbst geführet.
Sie schwebt daher und alle andern neigen
Sich ehrfurchtsvoll und halten tiefes Schweigen.
Umflossen
von dem hellsten Glorienschein,
So tritSchreibversehen, statt: tritt. sie mitten in
den Kreis hinein; |
Und überreicht dem lieben, zarten Kinde
Vom eignen Haupt das schönste Angebinde.
Es war, umstrahlt von nieerloschnem Glanz,
Ein frischer immergrünern Lorbeerkranz;
Und Phöbus, der von Milde niederschaute,
Legt auf das Lager seine gold’ne Laute. –––
So
wurdest Du zur Priesterin geweiht
Der edeln Kunst, die alle Menschen loben;
So hast Du immer schon und hast uns heut
Durch Deinen Sang zu Dir emporgehoben;
So hast Du milde Streiche ausgetheilt,
Wie einst dem Pfaffenthume Doctor
Luther,
Hast manchen wunden Fleck in uns geheilt,
Großmüthig doch gestreng als LöwenmutterAnspielung auf die Löwenapotheke, die Bertha Jahn nach dem Tod ihres Mannes weiterführte..
–
Ich
aber stehe hier in dieser Stube
Ganz einsam unter wilder
LöwenbrutGemeint sind die vier Kinder Bertha Jahns, Viktor, Lisa, Hanna und Ernst.; –
Wie einst uns dem Daniel in der Löwengrubenach der gleichnamigen biblischen Geschichte [vgl. Daniel 6, 1-29].
So sind auch mir die Löwen alle gut. |
Der Löwenmutter bring’ ich meinen Gruß
Und lebe ganz nach ihrem Wunsch und Willen;
Denn wie man mit den Wölfen
heulenRedewendung; sich dem Reden oder Handeln der Mehrheit anschließen. muß,
Will ich auch gerne mit den Löwen
brüllenals Redewendung ‚Gut gebrüllt, Löwe‘ aus Shakespeares ‚Ein Sommernachtstraum‘ bekannt; nachempfunden sein könnte der Zweizeiler einer anderen Quelle, in der es heißt: „man muß eben mit den Wölfen heulen und mit den Löwen brüllen!“ [Graf Hermann. Drama in fünf Aufzügen von Alexander Dumas. Für die deutsche Bühne bearbeitet von A. E. Badaire. Prag 1868, S. 18]..
Allein
vor wem ich sonst noch grüßenSchreibversehen, statt: grüßend.
steh’
Mit ++/ehrfurchtsvollem, kindlichem Gebahren,
Das ist des Hauses wunderschöne Fee,
Im weißen Kleid mit herrlich schwarzen Haaren.
So ruf ich donnernd Hoch mit frohem Sinn,
Ein dreifach Hoch der großen Dichterin!
Ein dreifach Hoch dem schönen Geist des Hauses!
Und heb’ mein Glas und trinke bis es aus is. –
[
Endeschnörkel]]