Kennung: 4894

Lenzburg, 18. Oktober 1884 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Jahn, Bertha

Inhalt

Seiner lieben TanteBertha Jahn, die verwitwete Inhaberin der Lenzburger Löwenapotheke, war mit Wedekind mindestens seit Herbst 1883 befreundet, stand mit ihm aber in keiner verwandtschaftlichen Beziehung. Seine Poesien versah sie, die selbst dichtete, mit kritischen Anmerkungen. Im Herbst 1884 entwickelte sich zwischen ihr und dem 25 Jahre jüngeren Studenten eine Liebschaft, die offenbar immer wieder aufflackerte, ehe sie nach 3 Jahren endgültig beendet wurde. Wedekind nannte sie seine erotische Tante.

Frau Bertha Jahn

in kindlicher Ergebenheit der dankbare Neffe

Franklin. 18.X.84. |


Ein Lied, ein Lied! – Mein Herz will überfließen;
S/D/ie Seele schwingt sich jauchzend himmelan. –
Ein Lied, worin die Freude sich ergießen,
das Lied sich senken und begraben kann!
Sing mir – heut will die ganze Schöpfung singen:
Rings um mich her, wohin mein Auge sieht,
Hör’ ich die schönsten Melodien erklingen. –
Sing mir, o Poesie, ein frohes Lied! –


Nicht, wie die Kunstpoeten aller Zeiten,
In strengem Rhythmus, engem Sylbenmaß,
Mit Wortabwägen und mit Kleinigkeiten,
Besteig, o Göttin, heute den ParnaßBerg in Griechenland; in der griech. Mythologie der Sitz der Götter.!
Verlaß den Pfad der leeren Reimerei!
Frisch, froh und frei
In lieben, leichten, zügellosen Stanzenital. Strophenform.
Laß jetzt die Geister Deiner Muse tanzen! – |


Was soll dem Jüngling all’ der Flitterkram,
Worein Philister ihre Verse ketten? –
Ein freies Wort, das aus der Seele kam,
Verschmäht den Zwang von zierlichen SonettenGedichtform.;
Ein himmelstürmender Gedanke bricht
Die engen Schranken jeder Form zusammen,
Und auf dem freien Götterangesicht
Sprühe feuerathmend der Begeistrung Flammen. –


Was ist es, das den Menschen glücklich macht?
Für welche Gunst soll ich den Schöpfer preisen?
Ist’s Geld und Gut, ists hohe Königspracht?
Ist’s Tugend, ists der kluge Sinn des Weisen? –
Beim Himmel, nein! Mein Glück muß tiefer sein!
Es ist des Lebens gold’ner Sonnenschein,
Es ist – o selig alle, die es fanden! –
Ein großes Herz, das unser Herz verstanden. –


Am grünen Bergeshang stand eine Wiege,
Drin lag ein frohes, unschulds volles Kind; |
Blau war sein Aug’ und herrlich seine Züge,
Wie sie bei überird’schen Wesen sind.
Und rings im Kreise standen schöne Frauen,
Wie Sterne um der Sonne Glanz geschaart,
Das Kind zu segnen und es anzuschauen
Und zu beschenken für die Pilgerfahrt.


Und in den Kreis trat eine schöne Frau,
War eine Göttin aus dem Heidenthume;
Blond war ihr wallend Haar, ihr Auge blau,
Am Herzen trug sie eine weiße Blume;
Und sprach: „Ich bin die große Göttin Herthagermanische Göttin der Fruchtbarkeit (Mutter Erde).,
Dich hab’ ich mir zum Pathchen auserwählt.
Und daß Dich stets mein starker Geist beseelt,
Geb’ ich Dir meinen zweiten Namen Berthadie Glänzende; in der germanischen Mythologie auch Berchta (Perchta), Hulda, Frau Holle (Mutter Erde), Hertha genannt: „Hulda, Frau Holle, der Name einer thüringhessischen Gottheit [...]. Es soll auch ein Beiname der Hertha sein, und es ist nicht unmöglich, daß diese germanische Göttin in gewissen Provinzen so genannt wurde. [...] In einigen Gegenden heißt sie auch die wilde Prechta, die wilde Bertha, [...] und denen, die ihr Wohlergefallen erregen, erscheint sie als weiße Frau“ [Damen Conversations Lexikon, Bd. 5, 1835, S. 348f.]..“


Ein ernstes Weib tritt in des Kreises Mitte
Und ihres Segens Zauber sich bewußt
Naht sie der Wiege sich mit leichtem Schritte
Und küßt das Kind auf seine junge Brust: |
„Dir sei ein großes, edles Herz beschehrt,
Wie eine Laute reich und klar besaitet.
Es mach’ Dich glücklich, froh und hochgeehrt,
Wenn’s Dir auch manchen herben Schmerz bereitet.“


Ein edles Herz, das Menschen lieben kann,
Sie zu begreifen weiß, selbst wenn sie fehlen –
Ein edles Herz, das mit sich himmelan
Uns trägt zum höchsten Fluge schöner Seelen –
Ein edles Herze ist ein tückisch Gut,
Ihm ist gar manches/r/ schwere Kampf beschieden.
Allein was ihm die Welt auch Leides thut;
Es trägt im Innern einen tiefen Frieden. –


Jetzt naht ein w/W/eib in seiner Schönheit Blüthe,
Schlank, leicht und hoch, von reizender Gestalt,
Zur Seite jener Wiege macht sie halt –
Es war die mächt’ge Göttin Aphroditein der griech. Mythologie die Göttin der Schönheit, sinnlichen Liebe und Verführungskunst..
Weiß Gott! Sie schwebte her als wie ein Engel,
Doch trug sie heidnisch, griechisches Gewand,
Und an der marmorweißen, zarten Hand
Folgt ihr ein kleiner, ungezog’ner Bengelin der röm. Mythologie Amor (auch: Cupido), röm. Gott der Liebe und Sohn der Venus (bzw. Aphrodite).. |


Drauf küßte sie das Mädchen lang und viel
Und blickt’ es an und segnet’ es und lachte:
„Ich schenke Dir ein griechisches Profil
Und alles, was mich selbst zur Göttin machte!“ –
Und wie sie noch so zärtlich kosen thät,
Zog Amor heimlich schmunzelnd und in Eile
Aus seinem Gurt den schärfsten seiner Pfeile
Und practizirt ihn meuchlings unter’s Bett.


Frau Venus trat zurück und ahnte nichts
Von allem, was ihr kleiner Schelm pexiretanstellt.. –
Sieh da, erschien im Glanze höhern Lichts
Voll Würdigkeit und stolzen Angesichts
Als Diamant, der eine Krone zieret
Die Göttin Poesie von PhöbusBeiname des Appollon, des griech. Gottes der Künste. selbst geführet.
Sie schwebt daher und alle andern neigen
Sich ehrfurchtsvoll und halten tiefes Schweigen.


Umflossen von dem hellsten Glorienschein,
So tritSchreibversehen, statt: tritt. sie mitten in den Kreis hinein; |
Und überreicht dem lieben, zarten Kinde
Vom eignen Haupt das schönste Angebinde.
Es war, umstrahlt von nieerloschnem Glanz,
Ein frischer immergrünern Lorbeerkranz;
Und Phöbus, der von Milde niederschaute,
Legt auf das Lager seine gold’ne Laute. –––


So wurdest Du zur Priesterin geweiht
Der edeln Kunst, die alle Menschen loben;
So hast Du immer schon und hast uns heut
Durch Deinen Sang zu Dir emporgehoben;
So hast Du milde Streiche ausgetheilt,
Wie einst dem Pfaffenthume Doctor Luther,
Hast manchen wunden Fleck in uns geheilt,
Großmüthig doch gestreng als LöwenmutterAnspielung auf die Löwenapotheke, die Bertha Jahn nach dem Tod ihres Mannes weiterführte.. –


Ich aber stehe hier in dieser Stube
Ganz einsam unter wilder LöwenbrutGemeint sind die vier Kinder Bertha Jahns, Viktor, Lisa, Hanna und Ernst.; –
Wie einst uns dem Daniel in der Löwengrubenach der gleichnamigen biblischen Geschichte [vgl. Daniel 6, 1-29].
So sind auch mir die Löwen alle gut. |
Der Löwenmutter bring’ ich meinen Gruß
Und lebe ganz nach ihrem Wunsch und Willen;
Denn wie man mit den Wölfen heulenRedewendung; sich dem Reden oder Handeln der Mehrheit anschließen. muß,
Will ich auch gerne mit den Löwen brüllenals Redewendung ‚Gut gebrüllt, Löwe‘ aus Shakespeares ‚Ein Sommernachtstraum‘ bekannt; nachempfunden sein könnte der Zweizeiler einer anderen Quelle, in der es heißt: „man muß eben mit den Wölfen heulen und mit den Löwen brüllen!“ [Graf Hermann. Drama in fünf Aufzügen von Alexander Dumas. Für die deutsche Bühne bearbeitet von A. E. Badaire. Prag 1868, S. 18]..


Allein vor wem ich sonst noch grüßenSchreibversehen, statt: grüßend. steh’
Mit ++/ehrfurchtsvollem, kindlichem Gebahren,
Das ist des Hauses wunderschöne Fee,
Im weißen Kleid mit herrlich schwarzen Haaren.
So ruf ich donnernd Hoch mit frohem Sinn,
Ein dreifach Hoch der großen Dichterin!
Ein dreifach Hoch dem schönen Geist des Hauses!
Und heb’ mein Glas und trinke bis es aus is. –

[Endeschnörkel]]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 3 Doppelblatt. 8 Seiten beschrieben. Seitenmaß 18,5 x 22,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die beschriebenen Seiten der beiden innenliegenden Doppelblätter sind mit arabischen Zahlen von 1 bis 7 durchnummeriert (hier nicht wiedergegeben). Der Umschlag enthält auf der Vorderseite die Widmung (hier wiedergegeben), auf der Rückseite hat Bertha Jahn die letzte Strophe aus Goethes Gedicht „Das Tagebuch“ (1810) notiert: „Und weil zuletzt bei jeder Dichtungsweise / Moralie uns ernstlich fördern sollen, / So will auch ich in so beliebtem Gleise / Euch gern bekennen, was die Verse wollen / Wir stolpern wohl auf unsrer Lebensreise, / Und doch vermögen in der Welt, der tollen, / Zwei Hebel viel aufs irdische Getriebe! / Sehr viel die Pflicht, unendlich mehr die Liebe!“

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Schreibort kann der Aufenthaltsort Wedekinds in den Semesterferien (Herbst 1884) angenommen werden.

  • Schreibort

    Lenzburg
    18. Oktober 1884 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Werke. Kritische Studienausgabe. Band 1/I. Gedichte. Lyrische Fragmente und Entwürfe

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Elke Austermühl
Verlag:
Darmstadt: Häusser.media Verlag
Jahrgang:
2007
Seitenangabe:
S. 168-172
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 11, Mappe 5, Nachträge, k
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Bertha Jahn, 18.10.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (03.12.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

23.07.2024 13:48