Lieber Herr Kraus,
ich danke Ihnen sehr für das ausgezeichnete Bild und Ihre
freundlichen Zeilenvgl. Karl Kraus an Wedekind, 21.10.1906. Das dem Brief beigelegte Foto ist nicht überliefert.. Ich habe heute eine große Bitte an Sie von der ich Ihnen
schon einmal sprach. Es handelt sich um ein Tagebuchzwei Tagebuchhefte, verfasst zwischen 24.5.1889 und 22.10.1890, die nur noch als Typoskripte erhalten sind [vgl. Vinçon 1989, S. 444, 448]. Wedekind hatte diese Tagebücher, außerdem Gedichtmanuskripte und andere Aufzeichnungen (siehe unten), als er am 29.19.1898 nach Zürich floh, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre zu entgehen, in München zurückgelassen [vgl. Wedekind an Ernst Rowohlt, 31.10.1910], wo Frida Strindberg sie in ihre Obhut nahm oder – wie Wedekind am 27.12.1910 erklärte – „sie sich angeeignet hatte“ [KSA 5/I, S. 1020]. Sie hat sie ihm seinerzeit jedenfalls nicht wie andere Unterlagen und Manuskripte nach Zürich nachgesandt. oder Notizbuch, vielleicht
auch andere Aufzeichnungendarunter das Manuskript „Eden“ (entstanden zwischen 22.4.1890 und 11.9.1892), nur noch als Typoskript überliefert [vgl. KSA 5/I, S. 886-914, 1024-1028]; es handelt sich um ein „Exposé zu einem erzählerischen Werk“ [KSA 5/I, S. 1024], das wie das Romanfragment „Mine-Haha“ (zu dem es Wedekind zufolge „Notizen“ oder „Aufzeichnungen“ [KSA 5/I, S. 1020] waren) in inhaltlichem Zusammenhang mit dem Projekt „Die große Liebe“ (siehe unten) steht und Wedekind „erst 1910 wieder zur Verfügung“ [KSA 5/I, S. 1133] stand., die sich noch in den Händen von Frau Frida Uhl
befinden. Ich selber weiß ihre Adresse nicht, sonst würde ich ihr vielleicht„vielleicht“ bis „beunruhigt würde“ fehlt im Erstdruck.
schreiben, vielleicht auch nicht, da die Gefahr | nahe liegt, daß meine Tilly
durch die Verhandlungen beunruhigt würde. Ich habe nun keineswegs die Absicht,
Frida Strindberg diese Schriftstücke abzujagen. Wenn sie w/W/erth darauf
legt, mag sie sie behalten, nur möchte ich gerne Abschriften davon haben, die
ich gerne auf meine Kosten herstellen lassen würde. Ich wälze nämlich eben
einen dramatischen Plandas umfangreich in Entwürfen überlieferte Projekt „Die große Liebe“ [KSA 5/I, S. 917-1012], unvollendet gebliebene fragmentarische Ausarbeitungen eines etwa im Herbst 1903 gefassten Plans einer kulturgeschichtlich weit ausgreifenden Gesellschafts- und Sexualutopie, den Wedekind mit Konzeptideen, Lektürelisten, Gedankensplittern, Gliederungsentwürfen und Bemerkungen zu Figuren, Ort, Handlung sowie thematischen Skizzen nach Abschluss seines Dramas „Musik“ am 9.10.1906 wieder aufnahm [vgl. KSA 5/I, S. 1132-1139]. Lektüren dazu sind ab dem 22.10.1906 nachweisbar [vgl. KSA 5/I, S. 1138f.]. Zunächst als Roman geplant, überlegte Wedekind nun, „sein Thema in Gestalt eines Dramas zu realisieren“, wobei aber im Verlauf der weiteren Arbeit daran „offenblieb, was aus dem Projekt werden sollte: Drama oder Erzählung.“ [KSA 5/I, S. 1134] Im Konvolut „Die große Liebe“ findet sich auch ein Gedicht „7 Worte“, das Wedekind dann in ein selbstständiges Gedicht umgearbeitet unter dem Titel „Die sechzig Zeilen oder Die sieben Worte“ am 10.6.1907 in der „Fackel“ veröffentlichte [vgl. KSA 5/I, S. 1141]. im Kopf herum, dessen Ausführung sehr lange Zeit in
Anspruch nehmen würde, zu dem ich aber gerade die erwähnten Aufzeichnungen
brauche.
Ich bitte Sie daher vorläufig nur, mir wenn möglich, Fridasim Erstdruck: die.
| Adresse zu schreiben. Sollten Sie dabei über meine Schriftstücke etwas
erfahren können, so wäre ich Ihnen sehr dankbar. Es ist wohl möglich daß Frida
Strindberg Ihre Vermittlung als kränkend empfindet. Ich w/ü/e/rde aber
natürlich sofort schreiben, sobald ich orientiert wäre.
Den interessanten BriefKarl Kraus hatte Wedekind den Brief eines „Fackel“-Lesers geschickt [vgl. Karl Kraus an Frank Wedekind, 21.10.1906]., den ich mit Freude gelesen schicke
ich Ihnen hiemit eingeschrieben zurück. Ein Exemplar PandoraWedekind sandte Karl Kraus erst zu Weihnachten ein ihm gewidmetes Exemplar [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 22.12.1906] der 1906 von Bruno Cassirer in Berlin verlegten Neuausgabe der Tragödie „Die Büchse der Pandora“ [vgl. KSA 3/II, S. 864f.], die außer den Gerichtsurteilen aus allen drei Instanzen anstelle des Personenverzeichnisses ein Faksimile des Theaterzettels der Wiener Premiere vom 29.5.1905 enthält, der seinerzeit auch in der „Fackel“ faksimiliert war [vgl. Die Fackel, Jg. 7, Nr. 182, 9.6.1905, S. 15]. erhalten Sie
morgen oder übermorgenWedekind hat weder am 24. noch am 25.10.1906 ein Treffen mit Bruno Cassirer notiert, dem Verleger seiner Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (siehe oben); erst am 26.10.1906 hielt er zu der Neuausgabe fest: „Von Cassirer à Conto für 2. Aufl. B. Pandora M. 200.“ [Tb], sobald ich bei meinem Verleger vorgesprochen. In der Cabaretge|schichteKarl Kraus hatte Wedekind eine Reklame des Künstlerkabaretts Nachtlicht geschickt [vgl. Karl Kraus an Frank Wedekind, 21.10.1906], die vermutlich unautorisiert mit Wedekinds Namen warb (sie ist nicht überliefert). möchte ich nichts vornehmen bevor die hiesige Censur ihre
Entscheidungüber die Freigabe von „Frühlings Erwachen“ für die geplante Uraufführung an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin (sie fand am 20.11.1906 statt) durch die Zensur, was am nächsten Tag der Fall war. Wedekind notierte am 24.10.1906: „Frühlings Erwachen wird frei gegeben.“ [Tb] gesprochen
Also auf baldiges Wiedersehen mit herzlichen Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
23.X.6Wedekind hat am 23.10.1906 im Tagebuch ein „F“ notiert, das für „Fackel“ stehen könnte, mithin für den Herausgeber der „Fackel“, Karl Kraus, vielleicht aber auch für ‚Frida‘, für Frida Strindberg, in deren Händen er seine vermissten Tagebücher und Manuskript glaubte (siehe oben)..