Kennung: 4208

München, 23. Februar 1918 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Tilly

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


An Tilly.


Mit Gewalt reißt des Schicksals Wut
Grausam uns von einander
Ob auch jeder sein liebstes tut
Wir ersticken selbander„zu zweien“ [DWB, Bd. 16, Sp. 428].
Tilly gieb mir noch einen Kuß!
Es kommt ja doch wie es kommen muß.


Du bist jung und dein Herzblut wallt
Mächtig dem Glück entgegen.
KeinenSchreibversehen (irrtümlich nicht korrigiert), statt: Keinem. grämlichen Aufenthalt
Ertrag’ Widme du/ich/ meinetwegen
Tilly gieb mir noch einen Kuß!
Es kommt ja doch wie es kommen muß.


Ich bin alt und der Jahre Gebrechen Last
Zwingt mich in’s Eigenbrödeln
Nimmer wollt mit dem siechen Gast
Ich meine Zeit vertrödeln.
Tilly gieb mir noch einen Kuß!
Es kommt ja doch wie es kommen muß.


[2. Abschrift der verschollenen Reinschrift durch Heinrich Mann:]


An Tilly


Mit Gewalt reisst des Schicksals Wut
Grausam uns von einander.
Ob auch Jeder sein Liebstes thut,
Wir ersticken selbander.
Tilly, gieb mir noch einen Kuss!
Es kommt ja doch, wie es kommen muss.

Du bist jung und Dein Herzblut wallt
Mächtig dem Glück entgegen.
Keinem grämlichen Aufenthalt
Widme Dich meinetwegen.
Tilly, gieb mir noch einen Kuss!
Es kommt ja doch, wie es kommen muss.

Ich bin alt. Des Gebrechens LastWedekind litt unter seiner nicht heilenden Bauchwunde; so notierte er am 17.2.1918: „Weinkrampf wegen meines Bruches“ [Tb], oder am 23.2.1918 (im letzten Tagebucheintrag vor seinem Tod): „Mein Bruch macht mir Beschwerden.“ [Tb]
Zwingt mich ins Eigenbrödeln.
Nimmer wollt’ mit dem siechen Gast
Ich meine Zeit vertrödeln.
Tilly, gieb mir noch einen Kuss!
Es kommt ja doch, wie es kommen muss.

Frank.


27/25/. Febr. 1917Schreibversehen, statt: 1918. Wedekind übergab das Briefgedicht am 25.2.1918 seiner Frau [vgl. Wedekind 1969, S. 194] und dürfte es auf diesen Tag datiert haben..

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 1 Seite beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Ringbuchblatt. 9 x 15 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Entwurf des Briefgedichts ist auf einem Blatt des Ringnotizbuchs in Wedekinds Nachlass [L 3476/6/4, Blatt 46r] überliefert. Die der Adressatin seinerzeit übergebene Reinschrift des Briefgedichts ist nicht erhalten. Die Abschrift (16,5 x 21 cm, Tinte, lateinische Schrift) dieser verschollenen Reinschrift durch Heinrich Mann – sie befindet sich in seinem Nachlass in der Akademie der Künste (Berlin) [Heinrich-Mann-Archiv, Signatur: Mann-Heinrich 353] – enthält unten auf der Seite leicht abgesetzt nach dem Datum in Klammern die Notiz „(27. Febr. in die Klinik, 2. operirt, 9. †)“ zu Wedekinds Gang am 27.2.1918 in die Chirurgische Heilanstalt des Hofrats Dr. Albert Krecke, seiner Operation dort am 2.3.1918 und seinem Tod am 9.3.1918 infolge dieser Operation. Das Blatt mit der Abschrift des Briefgedichts ist zusammen mit einem weiteren Blatt, das den auf den 9.3.1918 datierten Entwurf von Heinrich Manns Kondolenzschreiben an Tilly Wedekind sowie den Entwurf von Heinrich Manns am 12.3.1918 auf Frank Wedekinds Beerdigung gehaltener Grabrede enthält, archiviert und weist „dieselbe Papiersorte auf“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 372] wie das Blatt mit diesen Entwürfen. Die Abschrift des Briefgedichts mit Unterschrift und Datum dürfte insofern sehr bald nach Wedekinds Tod am 9.3.1918 hergestellt worden sein. Erhalten ist ferner ein „vermutlich 1968“ [KSA 1/I, S. 1006] entstandenes Typoskript „An Tilly“ [Mü, L 3477/32; vgl. KSA 1/I, S. 1007] mit der maschinenschriftlichen Notiz „Frank Wedekind / geschrieben und Tilly als Handschrift übergeben Ende Februar 1918“ [KSA 1/I, S. 1006], das „eine leichte Bearbeitung“ [KSA 1/I, S. 1006] des handschriftlichen Entwurfs darstellt und bei dem die zweite und dritte Strophe in der Reihenfolge vertauscht sind. Ein „weiteres Typoskript in identischer Textfassung“, das jedoch die maschinenschriftliche Notiz „nicht enthält“ [KSA 1/I, S. 1006], überließ Tilly Wedekind, die das Briefgedicht aus dem Gedächtnis rekonstruierte, 1968 Manfred Hahn (siehe den Kommentar zum Erstdruck mit Hinweisen auf weitere Drucke).

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 23.2.1918 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum. Tilly Wedekind zufolge schrieb Frank Wedekind das Briefgedicht nach einem Besuch von Shakespeares „Das Wintermärchen“ am Samstagabend in der Nacht vom 23. auf den 24.2.1918 und überreichte es ihr am darauffolgenden Montag, dem 25.2.1918 [vgl. Wedekind 1969, S. 192-194]. Frank Wedekind notierte zu dem Theaterbesuch – Shakespeares Stück wurde an diesem Abend in den Münchner Kammerspielen aufgeführt [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 71, Nr. 98, 23.2.1918, General-Anzeiger, S. 2] – am 23.2.1918: „Mit Tilly in den Kammerspielen. Wintermärchen Mein Bruch macht mir Beschwerden. Ich werde ausfällig Gehe fort komme zurück. Wir scheiden in Frieden.“ [Tb] Im Anschluss daran schrieb er das Briefgedicht. „Die philologisch ermittelbaren Daten innerhalb des Notizbuchs“, das den handschriftlichen Entwurf „überliefert, bestätigen diese Datierung.“ [KSA 1/I, S. 1005].

Erstdruck

Werke. Kritische Studienausgabe. Band 1/I. Gedichte. Lyrische Fragmente und Entwürfe

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Elke Austermühl
Verlag:
Darmstadt: Häusser.media Verlag
Jahrgang:
2007
Seitenangabe:
730-731
Kommentar:
Das Briefgedicht ist im Erstdruck nach dem handschriftlichen Entwurf als Gedicht ediert, die Streichungen und Ergänzungen sind im Kommentar mitgeteilt [vgl. KSA 1/I, S. 1007]. Der handschriftliche Entwurf wurde nicht bereinigt nochmals gedruckt [vgl. Vinçon 2018, Bd. 2, S. 373], im Kommentar zur Neuedition: Vinçon 2018, S. 487 (738). Die Neuedition bietet den Text erstmals als Briefgedicht nach der Abschrift von Heinrich Mann [vgl. Vinçon 2018, Bd. 2, S. 372], allerdings ohne das Datum. ‒ Die drei Strophen „An Tilly“ kamen als Gedicht bereits 1969 in einer varianten Fassung zum Abdruck [vgl. Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Hg. und eingeleitet von Manfred Hahn. Bd. 2. Berlin 1969, S. 745], die Tilly Wedekind Manfred Hahn zur Verfügung gestellt hat: „Dieses bisher unveröffentlichte Gedicht [...] übergab uns Tilly Wedekind für unsere Ausgabe. Es ist Frank Wedekinds letztes Gedicht, das Tilly Wedekind aus dem Gedächtnis aufgezeichnet hat.“ [Ebd., S. 782] In dieser Fassung sind die zweite und dritte Strophe vertauscht. „Manfred Hahn erreichte das Typoskript als Beilage zu einem Brief Kadidja Wedekinds vom 20.IX.1968. Dort heißt es, die Originalhandschrift sei verschollen. Tilly Wedekind habe das Manuskript immer bei sich getragen und eines Tages verloren. Der als Typoskript übersandte Text stelle die Rekonstruktion des Originals nach ihrem Gedächtnis dar. In einem Brief vom 30.IX.1969 an Manfred Hahn bezieht sich Kadidja Wedekind erneut auf das im Jahr zuvor übergebene Typoskript und teilt mit, dort seien die 2. und 3. Strophe vertauscht“ [KSA 1/I, S. 1006]. Die 1969 in Tilly Wedekinds Autobiografie abgedruckte Fassung enthält auf das Typoskript zurückgehende Varianten, bietet aber die korrekte Strophenabfolge [vgl. Wedekind 1969, S. 193f.].
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3476/6/4
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 23.2.1918. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

16.03.2023 09:31