FRANK WEDEKIND.
Sehr geehrter Herr BahrHermann Bahr, Schriftsteller in Wien (XIII, Veitlissengasse 5a) und seinerzeit Redakteur des „Neuen Wiener Tagblatt“ (Redaktion: Wien I, Steyrerhof 3) [vgl. Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Wien 1902, Teil VII, S. 33].,
erlauben Sie mir Ihnen für die ZeilenIm „Neuen Wiener Tagblatt“ war wenige Tage zuvor eine groß angelegte Gesamtwürdigung Wedekinds von Hermann Bahr erschienen, die auf der Grundlage der gedruckt vorliegenden Texte „Frühlings Erwachen“, „Die Fürstin Russalka“ (Sammelband), „Der Erdgeist“, „Der Kammersänger“, „Die junge Welt“, „Der Liebestrank“ und „Marquis von Keith“ argumentiert, näher aber nur auf die Erzählung „Die Liebe auf den ersten Blick“ im Sammelband „Die Fürstin Russalka“ eingeht, sich mit der bisherigen Kritik mit Wedekind auseinandersetzt und für dessen Autorprofil Idealismus ‚gegen den Strich‘ konstatiert: „Stark ausgedrückt: Wedekind ist der Unmensch unter uns, der sich sehnt, menschlich zu werden; er läßt uns das Chaos erblicken. Oder einfacher: er ist der Idealist à rebours, der uns das Ideal nicht flehentlich aufschmeicheln will, sondern es uns entzieht, daß wir wie Ertrinkende danach greifen.“ [Hermann Bahr: Frank Wedekind. In: Neues Wiener Tagblatt, Jg. 35, Nr. 249, 11.9.1901, S. 1-2, hier S. 1] im N. Wiener Tageblatt,
in denen ich so unvergleichSchreibversehen, statt: unvergleichlich. viel mehr als eine ruhige, unparteiische Würdigung
lese, meinen herzlichsten Dank zu sagen. Sie können schwerlich selber
vollkommen ermessen, einen wie großen und schönen Dienst Sie | mir mit der
Besprechung leisten. Die Deutsche Bühne, auf der hundert und hundert Geister
mit jedem Gedanken, den sie produzieren ohne große
Schwierigkeiten zu Wort kommen, ist mir bis jetzt noch so gut wie verschlossen.
Obschon die Aufführung meines KammersängersWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ (1899), uraufgeführt am 10.12.1899 im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Sezessionsbühne am Neuen Theater in Berlin, war „das zu Lebzeiten des Autors meistinszenierte Stück“ [KSA 4, S. 394] von ihm. Das Stück hat zuletzt am 31.8.1901 am Residenztheater in Berlin Premiere gehabt, eine Inszenierung, bei der Wedekind am 7.9.1901 die Hauptrolle übernahm [vgl. KSA 4, S. 400]. Hermann Bahr ist in seinem Aufsatz (siehe oben) nicht auf den „Kammersänger“ eingegangen., des schwerfälligsten und bühnen-unfähigsten
meiner Stücke kein Mißerfolg war, stoße ich heute bei sämmtlichen
Bühnen bei denen ich mich um eine Darstellung meines | MarquisWann die Uraufführung des „Marquis von Keith“ (1901), die lange in Aussicht stand und schließlich am 11.10.1901 „im Rahmen eines Literarischen Abends des Berliner Residenztheaters“ [KSA 4, S. 533] realisiert wurde, endlich stattfinden sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Hermann Bahr ist in seinem Aufsatz (siehe oben) nur beiläufig auf das Stück zu sprechen gekommen: „Aber ich empfinde zu stark, was in Wedekind drängt, um es verschweigen zu dürfen. Der banale ‚Uebermensch‘, der die verlotterte Phantasie unserer jungen Leute bethört, diese ‚Kreuzung von Philosoph und Pferdedieb‘, wie er seinen Marquis von Keith sagen läßt, macht ihn so rabiat, daß er in diesem Zorn einen anderen Menschen der Zukunft entwerfen wird, so sicher, so selbstbeherrscht und so milde, als jener wirr und wüst ist.“ [Hermann Bahr: Frank Wedekind. In: Neues Wiener Tagblatt, Jg. 35, Nr. 249, 11.9.1901, S. 2] Hermann Bahr ging auch in seiner Antwort auf den vorliegenden Brief auf die Titelfigur ein [vgl. Hermann Bahr an Wedekind, 20.9.1901]. v. Keith bewerbe
wieder auf Schwierigkeiten, wie sie sonst nur der aller-unbekannteste Anfänger zu überwinden hat. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß
mich Ihre Besprechung nicht größenwahnsinnig machen wird; ich bin froh, daß ich
persönlich nicht jedes Wort, das Sie über mich sagen, zu verantworten habe, bin
aber zugleich stolz darauf, daß ich für Sie die Veranlassung war,
eines der glänzendsten Feuilletons zu schreiben, die ich je gelesen habe. Ich
hoffe sehr, daß mir über kurz | oder lang Gelegenheit geboten wird, Ihre
persönliche BekanntschaftWedekind hat Hermann Bahr am 16.11.1901 in Wien kennengelernt, bei der Generalprobe zum Eröffnungsabend seines Gastspiels mit dem Jung-Wiener Theater Zum lieben Augustin im Theater an der Wien, bei der außer Hermann Bahr, der Sängerin Mary Halton und dem Schauspieler Richard Metzl (oder war es die Schauspielerin Ottilie Metzl, die spätere Ehefrau Felix Saltens?) auch Arthur Schnitzler anwesend war, wie dieser notierte: „Generalprobe des Jung Wiener Theaters. ‒Miss Halton; Wedekind, Bahr, Metzl.“ [Tb Schnitzler] zu machen. Wollen Sie bitte heute schon den Ausdruck langjähriger Verehrung, die ich für Sie hege, und die
Versicherung uneingeschränkter Hochschätzung engegennehmenSchreibversehen, statt: entgegennehmen..
Mit ergebenstem Gruß
Ihr
Frank Wedekind.
München, 17. Sept. 1901.