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Kennung: 88

Zürich, 12. Dezember 1893 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Donald (Doda)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Zürich d. 12. Dez. 1893


Lieber Bebi!

Ich weiß nicht ob du meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.9.1893. von 3 Monaten her empfangen hast oder nicht. Sei dem wie es wolle, so vernimm daß der Hauptinhalt war die Äußerung meines Wunsches, meine SkizzeDonald Wedekinds Bericht über seine Amerikareise, deren Kapitel Frank Wedekind korrigierte., die noch in deinen Händen ist, so weit sie dir fähig für eine Zeitung ist erscheint, zu corrigiren, so du aber keine Zeit hast oder sie dir nicht lebensfähig vorkommt, sie mir sofort zurückzusenden, damit ich sie selber, so weit es mir gut scheint, verwerte. Ich glaube sicher, daß sie anzubringen ist bis zu auf das Ende, was etwas zu romantisch ist, was aber noch nicht in deinen Händen istich befindet. Zudem wünschteSchreibversehen (Auslassung beim Seitenwechsel), statt: wünschte ich. | daß, wenn du aus diesem oder jenem Grunde die Sache durchaus nochnicht schicken könntest oder wolltest, du mir wenigstens einige Zeilen schreibst wie es dir geht und wo du bist. Es giebt ja allerdings Zustände, in denen man am liebsten gar keine Nachrichten empfängt noch giebt, aber ich hoffe, daß es noch nicht dein Fall ist und dann könntest du doch vielleicht mich, mich allein in’s Vertrauen ziehen. Ich kann schweigen.

Es läuft nämlich über dich das Gerücht, du seist in Basel. Mieze, welche vor 3 Wochen hier oder vielmehr in Dresden Lenzburg war, behauptete, ein Bekannter von ihr hätte dich gesehen. Wäre das nun wahr, so brauchtest du davon mir gar kein Geheimniß zu machen, weil ich ja doch so in der Nähe bin und wir uns mit Leichtigkeit sehen könnten und uns so beide den Aufenthalt in den | langweiligen Städten angenehm machen könnten. Mieze hat, wie dir wahrscheinlich schon bekannt ist, ein Engagement nach CasselErika Wedekind, die auch nach ihrer Prüfung am Dresdner Konservatorium im Frühjahr 1893 ihre Ausbildung als Sängerin dort fortsetzte, schloss im Herbst 1893 einen Vertrag mit dem Hoftheater Kassel ab und sollte ihr Engagement im Frühjahr 1894 beginnen, wurde jedoch vorher in Dresden zur Königlich-Sächsischen Hofopernsängerin ernannt und dort verpflichtet [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 317]. mit einer recht netten Besoldung. Auch hat sie sich sehr gut herausgearbeitet und ich habe mich redlich über sie gefreut.

Hier in Zürich fühle ich mich, soweit es meine Stunden die ich mit mir allein und Thomar verbringe, recht wöhnlich und mehr noch freue ich mich auf den Sommer, der in der prächtigen Wohnung, welche ich inne habe, recht gemütlich sein muß. Ich bin nur hier geblieben um mich daran zu gewöhnen, regelmäßig täglich einige Stunden zu arbeiten, und wenn es auch nur die CollegienVorlesungen an der Universität. sind, so kann ich doch schon von einem Erfolg sprechen. Da es hier in/a/uf der Straße, im Cafehaus | in Gesellschaft unbedingt langweiliger ist als zu Hause bei sich allein, so ist man viel im Lehnstuhl und das kostet wenig und bringt, wenn man ein Buch oder die Feder in die Hand nimmt, sogar noch etwas ein.

Thomar lebt auf seine gewohnte Weise, nur fürchte ich, daß seine Gesundheit sehr darunter leidet. Dr. Schwann geht es leidlich, er arbeitet sich mit seinen Artikeln so eigentlich von Hand zu Mund. Morgen Abend hält er einen VortragDer Literarhistoriker Mathieu Schwann hielt seinen Vortrag am 13.12.1893 im Zunfthaus zur Meise in Zürich; die Presse berichtete: „Der Vortrag ‚Aus neuer deutscher Dichtung‘, den Herr Dr. Schwann am Mittwoch abend in der ‚Meise‘ hielt, war von etwa dreißig Personen besucht. Leider sprach der Vortragende so leise, daß uns ein beträchtlicher Teil seiner Rede verloren ging; was wir verstanden haben, gefiel uns durch gute Disposition, Klarheit und Knappheit des Ausdrucks, durch seinen poetischen Schwung und gewählte Sprache. Aus den Ereignissen von 1870, aus den sozialen Strömungen der Gegenwart entwickelte er das Wesen der neuen deutschen Poesie, die, zuerst in die Tiefen des sozialen Elends tauchend, sich jetzt mehr und mehr vom Naturalismus weg einem neuen Schönheitsideal zuwende. Mit kurzen Strichen zeichnete er einige der hervorragenden Geister der Bewegung und gab in größeren, sehr schön vorgetragenen Citaten die Belege zu seinen Ausführungen.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 73, Nr. 348, 14.12.1893, 2. Blatt, S. (2)]. Mackay war für vierzehn Tage hier, Dr. BoelscheWilhelm Bölsche, Schriftsteller und von 1890 bis 1893 Redakteur der Zeitschrift „Freie Bühne“ (Berlin), lebte seit Oktober 1893 vorübergehend in Zürich, nachdem er das Verhältnis zwischen seiner Frau Adele Bölsche (geb. Bertlet) und dem mit ihm befreundeten anarchistischen Publizisten Bernhard Kampffmeyer entdeckt hatte, in dessen Haus in Friedrichshagen (Wilhelmstraße 72), einem Treffpunkt des Friedrichshagener Dichterkreis, das Paar wohnte [vgl. Ronald Vierock: Spazieren gehen in Friedrichshagen. Etwas eilig. In: Hille-Post. Mitteilungen für die Freunde des Dichters. 46. Folge, Januar 2013, S. 35]. Bernhard Kampffmeyer und Adele Bölsche reisten daraufhin nach Paris und London, wo sie am 22.12.1893 eintrafen [vgl. Christoph Knüppel: „In eine abschreckend katholische Gegend sind wir hier geraten“. Der deutsch-jüdische Schriftsteller und Anarchist Gustav Landauer in Bregenz. In: Jahrbuch des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek, Jg. 10, 2009, S. 43]., dessen Frau mit Kampfmeier durchgebrannt ist (nach Paris) gab seine Redactorstelle an der freien Bühne auf und lebt jetzt in einer schönen WohnungWilhelm Bölsche wohnte in Zürich-Enge in der Seewartstraße 12, wie aus Wilhelm Boelsches Korrespondenz des Jahres 1893 mit Ernst Haeckel hervorgeht [vgl. Breidbach/Bach 2013]. hier in Zürich. Von Hartleben hat man die Nachrichten, daß endlich der erlösende Tod seines Groß|vatersErnst Eduard Angerstein, Otto Erich Hartlebens Großvater mütterlicherseits, war am 17.10.1893 gestorben [vgl. Frank Wedekind an Otto Erich Hartleben, 22.10.1893]. eingetreten und er sich auf die Erbschaft hin verheiratetOtto Erich Hartleben erbte von seinem verstorbenen Großvater 80.000 Mark und heiratete am 2.12.1893 seine langjährige Lebensgefährtin, die ehemalige Kellnerin Selma Hesse (genannt: Moppchen). hätte. Er schrieb Dr. Schwann vor ungefähr 3 Wochen, daß er über München, Zürich nach Rom und Tunis zu reisen gedenke. Angekommen hier ist er noch nicht. Blei macht in Bern seinen DoctorFranz Blei promovierte am 5.3.1894 in Bern zum Dr. phil. (Nationalökonomie) mit der Dissertation: „Abbé Galiani und seine Dialogues sur le commerce des blés (1770)“ (1895 in der Buchdruckerei K. J. Wyß in Bern erschienen)..

Soweit über Zürich. Hami gedenkt immer noch nach Amerika zu gehen und will uns zu Weihnachten eine gemeinsame Feier bereiten. Henkell schreibt von Hannover aus revolutionäre oder doch wenigstens majestätsbeleidigende Artikelnicht ermittelt (die „Züricher Post“ ist in deutschen Bibliotheken nicht verfügbar). Bereits am 2.2.1888 war in der „Züricher Post“ Karl Henckells berühmt gewordenes „Lockspitzellied“ erschienen. an die Zürcher Post.

Noch einmal bitte ich dich, gieb mir doch Aufschluß, wie und wo du Aufenthalt genommen und schreibe mir etwas | über meine Arbeit. Ich möchte sie sehr, sehr gerne hier in Zürich unterbringenDonald Wedekinds Reisebericht seiner Amerikareise erschien unter dem Titel „Eine Auswandererfahrt“ in der Beilage der „Züricher Post“ im Februar 1894 in mehreren Teilen [Nr. 29 vom 4.2.1894, Nr. 36 vom 13.2.1894, Nr. 41 vom 18.2.1894, Nr. 47 vom 25.2.1894 und Nr. 53 vom 4.3.1894]. und zwar während ich noch hier bin. Thomar meinte, das Stück was ich in Händen habe, wäre unbedingt annehmbar und so komme ich in Versuchung, das erste Stück einzugeben und so dem zweiten die Möglichkeit zu rauben untergebracht zu werden. Schreibe noch also bald.

Von Rom aus habe ich die besten Berichte und es juckt mich, wenn ich bisweilen einen Brief von dort bekomme, in allen Adern, wieder aufzupacken, aber ich will hier aushalten, bin ich wieder im Fahrwasser der regelmäßigen Arbeit drin | so bin ich ziemlich einer sichren Zukunft gewiß.

Ich weiß, daß ich so nie noch vollglücklich geworden wäre. Das hätte ich sein können, wenn ich eine Million in den Händen gehabt hätte. Dann hätte ich mich in voller Wut in den Genuß gestürzt, hätte wahrscheinlich bald genug bekommen, und mich dann ohne Bedauern zurückgezogen und ein ruhiges Leben geführt. So würde immer etwas Wehmut über die Jahre hinfließen, wo ich nicht so wie ich gewünscht hätte, meinen Leidenschaften die Zügel schießen lassen könnte, um dann gesättigt mich zurückzuziehen. Ich mußte schon vorher zur Erhaltung meines Lebens aus dem Strudel heraus und das bedaure ich immer noch. Immerhin ist es noch nicht zu spät sich wieder hinein zu stürzen, aber die Jahre vergehen und plötzlich ist man nichts mehr wert. Also bitte nur eine Antwort. Hami wünscht es auch sehnlichst, aber je nachdem teile ich ihm etwas mit oder nicht. Ich bin dein treuer Bruder
Donald Wedekind


Tannenstrasse No 1

Pension Staehli-Forrer

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 7 am rechten Seitenrand eine Anstreichung mit rotem Buntstift (doppelt von „glücklich geworden“ bis „ohne Bedauern“, weiter einfach bis „Ich bin“).

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Zürich
    12. Dezember 1893 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Zürich
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Paris
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 304
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Donald (Doda) Wedekind an Frank Wedekind, 12.12.1893. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

01.10.2024 12:06
Kennung: 88

Zürich, 12. Dezember 1893 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Donald (Doda)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Zürich d. 12. Dez. 1893


Lieber Bebi!

Ich weiß nicht ob du meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.9.1893. von 3 Monaten her empfangen hast oder nicht. Sei dem wie es wolle, so vernimm daß der Hauptinhalt war die Äußerung meines Wunsches, meine SkizzeDonald Wedekinds Bericht über seine Amerikareise, deren Kapitel Frank Wedekind korrigierte., die noch in deinen Händen ist, so weit sie dir fähig für eine Zeitung ist erscheint, zu corrigiren, so du aber keine Zeit hast oder sie dir nicht lebensfähig vorkommt, sie mir sofort zurückzusenden, damit ich sie selber, so weit es mir gut scheint, verwerte. Ich glaube sicher, daß sie anzubringen ist bis zu auf das Ende, was etwas zu romantisch ist, was aber noch nicht in deinen Händen istich befindet. Zudem wünschteSchreibversehen (Auslassung beim Seitenwechsel), statt: wünschte ich. | daß, wenn du aus diesem oder jenem Grunde die Sache durchaus nochnicht schicken könntest oder wolltest, du mir wenigstens einige Zeilen schreibst wie es dir geht und wo du bist. Es giebt ja allerdings Zustände, in denen man am liebsten gar keine Nachrichten empfängt noch giebt, aber ich hoffe, daß es noch nicht dein Fall ist und dann könntest du doch vielleicht mich, mich allein in’s Vertrauen ziehen. Ich kann schweigen.

Es läuft nämlich über dich das Gerücht, du seist in Basel. Mieze, welche vor 3 Wochen hier oder vielmehr in Dresden Lenzburg war, behauptete, ein Bekannter von ihr hätte dich gesehen. Wäre das nun wahr, so brauchtest du davon mir gar kein Geheimniß zu machen, weil ich ja doch so in der Nähe bin und wir uns mit Leichtigkeit sehen könnten und uns so beide den Aufenthalt in den | langweiligen Städten angenehm machen könnten. Mieze hat, wie dir wahrscheinlich schon bekannt ist, ein Engagement nach CasselErika Wedekind, die auch nach ihrer Prüfung am Dresdner Konservatorium im Frühjahr 1893 ihre Ausbildung als Sängerin dort fortsetzte, schloss im Herbst 1893 einen Vertrag mit dem Hoftheater Kassel ab und sollte ihr Engagement im Frühjahr 1894 beginnen, wurde jedoch vorher in Dresden zur Königlich-Sächsischen Hofopernsängerin ernannt und dort verpflichtet [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 317]. mit einer recht netten Besoldung. Auch hat sie sich sehr gut herausgearbeitet und ich habe mich redlich über sie gefreut.

Hier in Zürich fühle ich mich, soweit es meine Stunden die ich mit mir allein und Thomar verbringe, recht wöhnlich und mehr noch freue ich mich auf den Sommer, der in der prächtigen Wohnung, welche ich inne habe, recht gemütlich sein muß. Ich bin nur hier geblieben um mich daran zu gewöhnen, regelmäßig täglich einige Stunden zu arbeiten, und wenn es auch nur die CollegienVorlesungen an der Universität. sind, so kann ich doch schon von einem Erfolg sprechen. Da es hier in/a/uf der Straße, im Cafehaus | in Gesellschaft unbedingt langweiliger ist als zu Hause bei sich allein, so ist man viel im Lehnstuhl und das kostet wenig und bringt, wenn man ein Buch oder die Feder in die Hand nimmt, sogar noch etwas ein.

Thomar lebt auf seine gewohnte Weise, nur fürchte ich, daß seine Gesundheit sehr darunter leidet. Dr. Schwann geht es leidlich, er arbeitet sich mit seinen Artikeln so eigentlich von Hand zu Mund. Morgen Abend hält er einen VortragDer Literarhistoriker Mathieu Schwann hielt seinen Vortrag am 13.12.1893 im Zunfthaus zur Meise in Zürich; die Presse berichtete: „Der Vortrag ‚Aus neuer deutscher Dichtung‘, den Herr Dr. Schwann am Mittwoch abend in der ‚Meise‘ hielt, war von etwa dreißig Personen besucht. Leider sprach der Vortragende so leise, daß uns ein beträchtlicher Teil seiner Rede verloren ging; was wir verstanden haben, gefiel uns durch gute Disposition, Klarheit und Knappheit des Ausdrucks, durch seinen poetischen Schwung und gewählte Sprache. Aus den Ereignissen von 1870, aus den sozialen Strömungen der Gegenwart entwickelte er das Wesen der neuen deutschen Poesie, die, zuerst in die Tiefen des sozialen Elends tauchend, sich jetzt mehr und mehr vom Naturalismus weg einem neuen Schönheitsideal zuwende. Mit kurzen Strichen zeichnete er einige der hervorragenden Geister der Bewegung und gab in größeren, sehr schön vorgetragenen Citaten die Belege zu seinen Ausführungen.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 73, Nr. 348, 14.12.1893, 2. Blatt, S. (2)]. Mackay war für vierzehn Tage hier, Dr. BoelscheWilhelm Bölsche, Schriftsteller und von 1890 bis 1893 Redakteur der Zeitschrift „Freie Bühne“ (Berlin), lebte seit Oktober 1893 vorübergehend in Zürich, nachdem er das Verhältnis zwischen seiner Frau Adele Bölsche (geb. Bertlet) und dem mit ihm befreundeten anarchistischen Publizisten Bernhard Kampffmeyer entdeckt hatte, in dessen Haus in Friedrichshagen (Wilhelmstraße 72), einem Treffpunkt des Friedrichshagener Dichterkreis, das Paar wohnte [vgl. Ronald Vierock: Spazieren gehen in Friedrichshagen. Etwas eilig. In: Hille-Post. Mitteilungen für die Freunde des Dichters. 46. Folge, Januar 2013, S. 35]. Bernhard Kampffmeyer und Adele Bölsche reisten daraufhin nach Paris und London, wo sie am 22.12.1893 eintrafen [vgl. Christoph Knüppel: „In eine abschreckend katholische Gegend sind wir hier geraten“. Der deutsch-jüdische Schriftsteller und Anarchist Gustav Landauer in Bregenz. In: Jahrbuch des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek, Jg. 10, 2009, S. 43]., dessen Frau mit Kampfmeier durchgebrannt ist (nach Paris) gab seine Redactorstelle an der freien Bühne auf und lebt jetzt in einer schönen WohnungWilhelm Bölsche wohnte in Zürich-Enge in der Seewartstraße 12, wie aus Wilhelm Boelsches Korrespondenz des Jahres 1893 mit Ernst Haeckel hervorgeht [vgl. Breidbach/Bach 2013]. hier in Zürich. Von Hartleben hat man die Nachrichten, daß endlich der erlösende Tod seines Groß|vatersErnst Eduard Angerstein, Otto Erich Hartlebens Großvater mütterlicherseits, war am 17.10.1893 gestorben [vgl. Frank Wedekind an Otto Erich Hartleben, 22.10.1893]. eingetreten und er sich auf die Erbschaft hin verheiratetOtto Erich Hartleben erbte von seinem verstorbenen Großvater 80.000 Mark und heiratete am 2.12.1893 seine langjährige Lebensgefährtin, die ehemalige Kellnerin Selma Hesse (genannt: Moppchen). hätte. Er schrieb Dr. Schwann vor ungefähr 3 Wochen, daß er über München, Zürich nach Rom und Tunis zu reisen gedenke. Angekommen hier ist er noch nicht. Blei macht in Bern seinen DoctorFranz Blei promovierte am 5.3.1894 in Bern zum Dr. phil. (Nationalökonomie) mit der Dissertation: „Abbé Galiani und seine Dialogues sur le commerce des blés (1770)“ (1895 in der Buchdruckerei K. J. Wyß in Bern erschienen)..

Soweit über Zürich. Hami gedenkt immer noch nach Amerika zu gehen und will uns zu Weihnachten eine gemeinsame Feier bereiten. Henkell schreibt von Hannover aus revolutionäre oder doch wenigstens majestätsbeleidigende Artikelnicht ermittelt (die „Züricher Post“ ist in deutschen Bibliotheken nicht verfügbar). Bereits am 2.2.1888 war in der „Züricher Post“ Karl Henckells berühmt gewordenes „Lockspitzellied“ erschienen. an die Zürcher Post.

Noch einmal bitte ich dich, gieb mir doch Aufschluß, wie und wo du Aufenthalt genommen und schreibe mir etwas | über meine Arbeit. Ich möchte sie sehr, sehr gerne hier in Zürich unterbringenDonald Wedekinds Reisebericht seiner Amerikareise erschien unter dem Titel „Eine Auswandererfahrt“ in der Beilage der „Züricher Post“ im Februar 1894 in mehreren Teilen [Nr. 29 vom 4.2.1894, Nr. 36 vom 13.2.1894, Nr. 41 vom 18.2.1894, Nr. 47 vom 25.2.1894 und Nr. 53 vom 4.3.1894]. und zwar während ich noch hier bin. Thomar meinte, das Stück was ich in Händen habe, wäre unbedingt annehmbar und so komme ich in Versuchung, das erste Stück einzugeben und so dem zweiten die Möglichkeit zu rauben untergebracht zu werden. Schreibe noch also bald.

Von Rom aus habe ich die besten Berichte und es juckt mich, wenn ich bisweilen einen Brief von dort bekomme, in allen Adern, wieder aufzupacken, aber ich will hier aushalten, bin ich wieder im Fahrwasser der regelmäßigen Arbeit drin | so bin ich ziemlich einer sichren Zukunft gewiß.

Ich weiß, daß ich so nie noch vollglücklich geworden wäre. Das hätte ich sein können, wenn ich eine Million in den Händen gehabt hätte. Dann hätte ich mich in voller Wut in den Genuß gestürzt, hätte wahrscheinlich bald genug bekommen, und mich dann ohne Bedauern zurückgezogen und ein ruhiges Leben geführt. So würde immer etwas Wehmut über die Jahre hinfließen, wo ich nicht so wie ich gewünscht hätte, meinen Leidenschaften die Zügel schießen lassen könnte, um dann gesättigt mich zurückzuziehen. Ich mußte schon vorher zur Erhaltung meines Lebens aus dem Strudel heraus und das bedaure ich immer noch. Immerhin ist es noch nicht zu spät sich wieder hinein zu stürzen, aber die Jahre vergehen und plötzlich ist man nichts mehr wert. Also bitte nur eine Antwort. Hami wünscht es auch sehnlichst, aber je nachdem teile ich ihm etwas mit oder nicht. Ich bin dein treuer Bruder
Donald Wedekind


Tannenstrasse No 1

Pension Staehli-Forrer

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 7 am rechten Seitenrand eine Anstreichung mit rotem Buntstift (doppelt von „glücklich geworden“ bis „ohne Bedauern“, weiter einfach bis „Ich bin“).

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Zürich
    12. Dezember 1893 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Zürich
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Paris
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 304
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Donald (Doda) Wedekind an Frank Wedekind, 12.12.1893. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

01.10.2024 12:06