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München, 14.VIII.1898.
Liebe, sehr verehrte Frau Doctor,
das herrliche Wetter, das wir seit mehreren Tagen hier in
München genießen, läßt mich voraussetzen, daß auch Sie und Ihr lieber Herr
Gemahl alle Ursache haben, mit Ihrem FerienaufenthaltCarl und Beate Heine waren auf Helgoland, der Ferienort, den Wedekind dann in seinem nächsten Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.8.1898] ausdrücklich nannte., der Ihrer Beschreibung
nachHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 30.7.1898. an den Garten eines Paradieses grenzen muß, zufrieden zu sein.
Ich gehe nun zuerst zur Beantwortung Ihrer werthgeschätzten
Fragen. Für die beiden CompositionsbücherBücher mit Notenzeilen zum Eintragen von Melodien. habe ich Ihnen noch gar nicht
gedankt; ich mochte es nur deshalb vergessen haben, weil ich in dem Wirrwarr
von verschiedenen Interessen, in dem ich mich hier befinde, noch zu keinem
ernstlichen Studiren gekommen bin. Den Bleistift sowohl wie das hübsche
Cigarettenetuis habe ich seit vierzehn TagenBleistift und Zigarettenetui, enthalten in dem von ihm am 23.7.1898 geöffneten Geburtstagspaket, erwähnte Wedekind bereits in seinem Dankesbrief für die Geschenke [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898]. Insofern waren es keine zwei, sondern gut drei Wochen, dass er sich an diesen Geschenken freute., d.h seit dem glücklichen Tag,
der es mir gebracht, in unausgesetztem Gebrauch. Das sind Dinge, die man
unmöglich verlieren kann. Das Streichholzetuis möchte ich etwas länger behalten
als die beiden letzten. Es paradiert daher vor der Hand auf meinem
Schreibtisch. Die Kuchen sind aufgegessen und haben vorzüglich geschmeckt.
Sie stellen wieder allerhand verfängliche Fragen à propos
TutzingWedekind hatte Beate Heine von seinem Besuch am 24.7.1898 in Tutzing bei Frida Strindberg erzählt und dabei die Problematik dieser Beziehung angedeutet [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898].. Es gibt für uns beide nur das Eine, den NymbusNimbus, hier: der äußere Anschein. zu wahren. Von irgend
einem Glück kann zwischen zwei Menschen, die so wenig wie möglich
zusammenpassen, nicht die Rede sein. Ich galt hier aber während eines vollen
Jahres als der Unmensch, der seine Geliebte im Stich gelassen, und einen derartigen
Vorwurf kann ich mir jetzt am allerwenigsten machen lassen. Das einzig gute ist
die Entfernung, die zwischen uns liegt, alles übrige ist traurig, so trostlos,
daß es mir nicht leicht wird, es der Welt gegenüber zu bemänteln. Ich habe
übrigens keine Ursache, mich über jemanden zu beklagen. Es ist damit wie mit
einem Drama. Wenn ein Drama richtig gedacht ist, sei es noch so stümperhaft
ausgeführt, dann läßt sich immer noch was daraus machen. Ist es aber von
vornherein falsch gedacht, beruht es auf falschen Voraussetzungen, dann läßt
sich nie und nirgends was daraus machen. Das ist meine Auffassung und auch die
der Anderen. Mit großer Vorsicht, Umsicht, Rücksicht lenke ich mein Boot
zwischen dem Felsenriff und dem Strudel hindurch. Etwas besseres kann ich
augenblicklich nicht thun, da ich zuviel anderes zu thun habe.
Meine Hauptbeschäftigung ist der Simplizissimus, für den ich
täglich arbeite in Witzen, Gedichten und anderem Mist. Vor der Hand ist Langen
noch von ungetrübter Liebenswürdigkeit. Er stellte mich auch seinem Schwager
Biörnson vor, empfahl ihm meine Stücke u.s.w. u.s.w. Wenn etwas daraus wird, um
so besser. Vor einigen Tagen war ich mit Richard im GärtnertheaterDas Theater am Gärtnerplatz (Direktion: Franz Josef Brakl) wurde vom 2.5.1898 bis 10.9.1898 durch den Architekten Emanuel Seidl umgebaut [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 441].. Director
Brackl empfing mich wie einen alten Bekannten, führte uns zwei Stunden lang
durch die noch unvollendeten Räume und bat mich, ihm meine Stücke zu schicken. Gestern
schickte ich ihmHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Büchersendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Franz Josef Brakl, 13.8.1898. Erdgeist und Fritz Schwiegerling. ‒ Drach ist derweil endgültig verkracht Emil Drach, für die Moderne engagierter Direktor des am 17.11.1897 eröffneten Münchner Schauspielhauses, konnte im Sommer 1898 die Gagen nicht mehr bezahlen, war finanziell an diesem Theaterprojekt gescheitert und trat Mitte August 1898 zurück. Sein Nachfolger wurde der bisherige Oberregisseur Georg Stollberg, der als neuer Direktor am Schauspielhaus offiziell am 7.9.1898 mit Georg Hirschfelds Schauspiel „Die Mütter“ antrat.und Stollberg
ist eben im Begriff von neuem zu beginnen. Ich bilde mir ein, sehr gut mit ihm
zu stehen. Zu einer Uebernahme von RollenWedekind hatte am 26.7.1898 mit Georg Stollberg eine Vereinbarung für sein Engagement zunächst als Schauspieler am Münchner Schauspielhaus getroffen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898] und wurde von ihm am 22.8.1898 „als Dramaturg und Schauspieler unter Vertrag genommen“ [Vinçon 1987, S. 53], aber auch als Sekretär [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443]. meinerseits ist es natürlich noch
nicht gekommen; auch er bewirbt sich um meine Stücke. Die erste Liebhaberin
unter Drach, Frl. Triesch, die sich sehr auf die Lulu gefreutWedekinds „Erdgeist“ hatte erst am 29.10.1898 am Münchner Schauspielhaus Premiere [vgl. KSA 3/II, S. 1203, 1220-1222]. Die Hauptrolle der Lulu spielte dann allerdings Milena Gnad, nicht Irene Triesch, die zum Ensemble des Münchner Schauspielhauses gehörte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 469], aber an das Stadttheater in Frankfurt am Main wechselte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 340]. hatte, ist mit
der Rolle nach FrankfurtEine „Erdgeist“-Inszenierung am Stadttheater in Frankfurt am Main (Intendant: Emil Claar) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 340] kam nicht zustande. gereist und will am dortigen Stadttheater dafür
sprechen. Wie Sie aber aus alledem ersehen, war es mir bis jetzt noch nicht
möglich, irgend etwas bestimmtes zu erreichen.
Gottlob ging es mir bisher hier ganz gut. Ich habe vorderhand
Langen und hoffe auf Stollberg. Langen findet meine Absichten durchaus
vernünftig, nur bin ich Stollbergs noch nicht ganz sicher.
Ich fühle selber, liebe Frau Doctor, wie tötlich langweilig
diese Zeilen sind. Aber wenn das Leben hier auch viel höhere Wogen aufwirft als
in Leipzig, so geschieht eben doch nicht mehr, im Gegentheil. Man kneipt, liebt und
lebt, das läßt sich nicht umgehen, weil das Geschäftliche, wenn zufällig mal
etwas vorliegt, dabei erledigt wird. Mit Martens war ich sehr oft beisammen.
Jetzt ist er verreist. Weber sah ich nur einmal, am ersten Abend. Unsere Kreise
sind gänzlich verschiedene. Von meiner KopfwundeWedekind hat sich diese Wunde wohl im Zusammenhang der Veranstaltungen des Mitteldeutschen Bundesschießens zugezogen (siehe unten), also an einem der Tage vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig., um auch noch die letzte
Ihrer liebenswürdigen Fragen zu beantworten, ist seit meinem Hiersein nichts
mehr zu sehen, ihre letzte Spur erinnert mich nur noch an die herzliche Pflege,
die ich als Patient bei Ihnen genossen, und an das mitteldeutsche
BundesschießenDas Mitteldeutsche Bundesschießen, eine vom Mitteldeutschen Schützenbund jährlich in einer anderen Stadt ausgerichtete Großveranstaltung, fand vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig statt. Das Volksfest feierte in diesem Jahr ein Jubiläum (siehe den 12teiligen Bericht „Die 25jährige Jubelfeier des Mitteldeutschen Schützenbundes“ im „Leipziger Tageblatt“ vom 1. bis 11.7.1898), das mit einem Feuerwerk endete. Hauptveranstaltungsorte waren der Leipziger Schützenhof und eine Festwiese mit Bierausschank. Es fanden Wettschießen statt, an denen über 800 Schützen teilnahmen..
Grüßen Sie aufs herzlichste Ihren lieben Herrn Gemahl. Ich
bin eben damit beschäftigt, Kaiser und Galiläer für die Bühne einzurichtenDie Inszenierung von Henrik Ibsens Drama „Kaiser und Galiläer“ am Münchner Schauspielhaus wurde nicht realisiert., und
würde mich so gerne mit ihm darüber besprechen. Ich halte das Stück, gehörig
zusammengestrichen, für ganz außerordentlich wirksam.
Mit den besten Wünschen und herzlichsten Grüßen bin ich Ihr
Ihnen ganz ergebener
Frank Wedekind.
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Sie stellen allerhand verfängliche Fragen à propos
Tutzing. Es gibt für uns beide nur das Eine, den Nymbus zu wahren. Von irgend
einem Glück kann zwischen zwei Menschen die so wenig wie möglich
zusammenpassen, nicht die Rede sein. Ich galt hier aber während eines vollen
Jahres als der Unmensch, der seine Geliebte im Stich gelassen, und einen
derartigen Vorwurf kann ich mir jetzt am allerwenigsten machen lassen [...] Ich
habe übrigens keine Ursache, mich über jemanden zu beklagen. Es ist damit wie
mit einem Drama. Wenn ein Drama richtig gedacht ist, sei es noch so stümperhaft
ausgeführt, dann läßt sich immer noch was daraus machen. Ist es aber von vorn herein
falsch gedacht [...], dann läßt sich nie und nirgends etwas daraus machen [...]