Kennung: 922

München, 14. August 1898 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate

Inhalt

[1. Druck:]


München, 14.VIII.1898.


Liebe, sehr verehrte Frau Doctor,

das herrliche Wetter, das wir seit mehreren Tagen hier in München genießen, läßt mich voraussetzen, daß auch Sie und Ihr lieber Herr Gemahl alle Ursache haben, mit Ihrem FerienaufenthaltCarl und Beate Heine waren auf Helgoland, der Ferienort, den Wedekind dann in seinem nächsten Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.8.1898] ausdrücklich nannte., der Ihrer Beschreibung nachHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 30.7.1898. an den Garten eines Paradieses grenzen muß, zufrieden zu sein.

Ich gehe nun zuerst zur Beantwortung Ihrer werthgeschätzten Fragen. Für die beiden CompositionsbücherBücher mit Notenzeilen zum Eintragen von Melodien. habe ich Ihnen noch gar nicht gedankt; ich mochte es nur deshalb vergessen haben, weil ich in dem Wirrwarr von verschiedenen Interessen, in dem ich mich hier befinde, noch zu keinem ernstlichen Studiren gekommen bin. Den Bleistift sowohl wie das hübsche Cigarettenetuis habe ich seit vierzehn TagenBleistift und Zigarettenetui, enthalten in dem von ihm am 23.7.1898 geöffneten Geburtstagspaket, erwähnte Wedekind bereits in seinem Dankesbrief für die Geschenke [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898]. Insofern waren es keine zwei, sondern gut drei Wochen, dass er sich an diesen Geschenken freute., d.h seit dem glücklichen Tag, der es mir gebracht, in unausgesetztem Gebrauch. Das sind Dinge, die man unmöglich verlieren kann. Das Streichholzetuis möchte ich etwas länger behalten als die beiden letzten. Es paradiert daher vor der Hand auf meinem Schreibtisch. Die Kuchen sind aufgegessen und haben vorzüglich geschmeckt.

Sie stellen wieder allerhand verfängliche Fragen à propos TutzingWedekind hatte Beate Heine von seinem Besuch am 24.7.1898 in Tutzing bei Frida Strindberg erzählt und dabei die Problematik dieser Beziehung angedeutet [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898].. Es gibt für uns beide nur das Eine, den NymbusNimbus, hier: der äußere Anschein. zu wahren. Von irgend einem Glück kann zwischen zwei Menschen, die so wenig wie möglich zusammenpassen, nicht die Rede sein. Ich galt hier aber während eines vollen Jahres als der Unmensch, der seine Geliebte im Stich gelassen, und einen derartigen Vorwurf kann ich mir jetzt am allerwenigsten machen lassen. Das einzig gute ist die Entfernung, die zwischen uns liegt, alles übrige ist traurig, so trostlos, daß es mir nicht leicht wird, es der Welt gegenüber zu bemänteln. Ich habe übrigens keine Ursache, mich über jemanden zu beklagen. Es ist damit wie mit einem Drama. Wenn ein Drama richtig gedacht ist, sei es noch so stümperhaft ausgeführt, dann läßt sich immer noch was daraus machen. Ist es aber von vornherein falsch gedacht, beruht es auf falschen Voraussetzungen, dann läßt sich nie und nirgends was daraus machen. Das ist meine Auffassung und auch die der Anderen. Mit großer Vorsicht, Umsicht, Rücksicht lenke ich mein Boot zwischen dem Felsenriff und dem Strudel hindurch. Etwas besseres kann ich augenblicklich nicht thun, da ich zuviel anderes zu thun habe.

Meine Hauptbeschäftigung ist der Simplizissimus, für den ich täglich arbeite in Witzen, Gedichten und anderem Mist. Vor der Hand ist Langen noch von ungetrübter Liebenswürdigkeit. Er stellte mich auch seinem Schwager Biörnson vor, empfahl ihm meine Stücke u.s.w. u.s.w. Wenn etwas daraus wird, um so besser. Vor einigen Tagen war ich mit Richard im GärtnertheaterDas Theater am Gärtnerplatz (Direktion: Franz Josef Brakl) wurde vom 2.5.1898 bis 10.9.1898 durch den Architekten Emanuel Seidl umgebaut [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 441].. Director Brackl empfing mich wie einen alten Bekannten, führte uns zwei Stunden lang durch die noch unvollendeten Räume und bat mich, ihm meine Stücke zu schicken. Gestern schickte ich ihmHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Büchersendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Franz Josef Brakl, 13.8.1898. Erdgeist und Fritz Schwiegerling. ‒ Drach ist derweil endgültig verkracht Emil Drach, für die Moderne engagierter Direktor des am 17.11.1897 eröffneten Münchner Schauspielhauses, konnte im Sommer 1898 die Gagen nicht mehr bezahlen, war finanziell an diesem Theaterprojekt gescheitert und trat Mitte August 1898 zurück. Sein Nachfolger wurde der bisherige Oberregisseur Georg Stollberg, der als neuer Direktor am Schauspielhaus offiziell am 7.9.1898 mit Georg Hirschfelds Schauspiel „Die Mütter“ antrat.und Stollberg ist eben im Begriff von neuem zu beginnen. Ich bilde mir ein, sehr gut mit ihm zu stehen. Zu einer Uebernahme von RollenWedekind hatte am 26.7.1898 mit Georg Stollberg eine Vereinbarung für sein Engagement zunächst als Schauspieler am Münchner Schauspielhaus getroffen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898] und wurde von ihm am 22.8.1898 „als Dramaturg und Schauspieler unter Vertrag genommen“ [Vinçon 1987, S. 53], aber auch als Sekretär [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443]. meinerseits ist es natürlich noch nicht gekommen; auch er bewirbt sich um meine Stücke. Die erste Liebhaberin unter Drach, Frl. Triesch, die sich sehr auf die Lulu gefreutWedekinds „Erdgeist“ hatte erst am 29.10.1898 am Münchner Schauspielhaus Premiere [vgl. KSA 3/II, S. 1203, 1220-1222]. Die Hauptrolle der Lulu spielte dann allerdings Milena Gnad, nicht Irene Triesch, die zum Ensemble des Münchner Schauspielhauses gehörte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 469], aber an das Stadttheater in Frankfurt am Main wechselte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 340]. hatte, ist mit der Rolle nach FrankfurtEine „Erdgeist“-Inszenierung am Stadttheater in Frankfurt am Main (Intendant: Emil Claar) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 340] kam nicht zustande. gereist und will am dortigen Stadttheater dafür sprechen. Wie Sie aber aus alledem ersehen, war es mir bis jetzt noch nicht möglich, irgend etwas bestimmtes zu erreichen.

Gottlob ging es mir bisher hier ganz gut. Ich habe vorderhand Langen und hoffe auf Stollberg. Langen findet meine Absichten durchaus vernünftig, nur bin ich Stollbergs noch nicht ganz sicher.

Ich fühle selber, liebe Frau Doctor, wie tötlich langweilig diese Zeilen sind. Aber wenn das Leben hier auch viel höhere Wogen aufwirft als in Leipzig, so geschieht eben doch nicht mehr, im Gegentheil. Man kneipt, liebt und lebt, das läßt sich nicht umgehen, weil das Geschäftliche, wenn zufällig mal etwas vorliegt, dabei erledigt wird. Mit Martens war ich sehr oft beisammen. Jetzt ist er verreist. Weber sah ich nur einmal, am ersten Abend. Unsere Kreise sind gänzlich verschiedene. Von meiner KopfwundeWedekind hat sich diese Wunde wohl im Zusammenhang der Veranstaltungen des Mitteldeutschen Bundesschießens zugezogen (siehe unten), also an einem der Tage vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig., um auch noch die letzte Ihrer liebenswürdigen Fragen zu beantworten, ist seit meinem Hiersein nichts mehr zu sehen, ihre letzte Spur erinnert mich nur noch an die herzliche Pflege, die ich als Patient bei Ihnen genossen, und an das mitteldeutsche BundesschießenDas Mitteldeutsche Bundesschießen, eine vom Mitteldeutschen Schützenbund jährlich in einer anderen Stadt ausgerichtete Großveranstaltung, fand vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig statt. Das Volksfest feierte in diesem Jahr ein Jubiläum (siehe den 12teiligen Bericht „Die 25jährige Jubelfeier des Mitteldeutschen Schützenbundes“ im „Leipziger Tageblatt“ vom 1. bis 11.7.1898), das mit einem Feuerwerk endete. Hauptveranstaltungsorte waren der Leipziger Schützenhof und eine Festwiese mit Bierausschank. Es fanden Wettschießen statt, an denen über 800 Schützen teilnahmen..

Grüßen Sie aufs herzlichste Ihren lieben Herrn Gemahl. Ich bin eben damit beschäftigt, Kaiser und Galiläer für die Bühne einzurichtenDie Inszenierung von Henrik Ibsens Drama „Kaiser und Galiläer“ am Münchner Schauspielhaus wurde nicht realisiert., und würde mich so gerne mit ihm darüber besprechen. Ich halte das Stück, gehörig zusammengestrichen, für ganz außerordentlich wirksam.

Mit den besten Wünschen und herzlichsten Grüßen bin ich Ihr Ihnen ganz ergebener
Frank Wedekind.


[2. Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]


Sie stellen allerhand verfängliche Fragen à propos Tutzing. Es gibt für uns beide nur das Eine, den Nymbus zu wahren. Von irgend einem Glück kann zwischen zwei Menschen die so wenig wie möglich zusammenpassen, nicht die Rede sein. Ich galt hier aber während eines vollen Jahres als der Unmensch, der seine Geliebte im Stich gelassen, und einen derartigen Vorwurf kann ich mir jetzt am allerwenigsten machen lassen [...] Ich habe übrigens keine Ursache, mich über jemanden zu beklagen. Es ist damit wie mit einem Drama. Wenn ein Drama richtig gedacht ist, sei es noch so stümperhaft ausgeführt, dann läßt sich immer noch was daraus machen. Ist es aber von vorn herein falsch gedacht [...], dann läßt sich nie und nirgends etwas daraus machen [...]

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck zugänglich. Die Existenz des Originals ist verbürgt [vgl. J. A. Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232].

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    14. August 1898 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Helgoland
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
306-309
Briefnummer:
140
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

08.03.2024 12:32